Charitas profectus animi, qui Deum et in Deo omnia diligit.

Die Liebe ist das Voranschreiten der Seele, die Gott und in Gott alles liebt.

Dieser Satz ist für mich gleichsam der Schlüsselsatz der Sieben Bücher der Dialoge. In meiner Abhandlung möchte ich zeigen, daß die Liebe, die Charitas, für Hugo der zentrale Begriff seiner Theologie ist. Gott selbst ist die Liebe und hat aus Liebe die Welt durch sein Wort ins Dasein gerufen. Von der vernunftbegabten Schöpfung, der Gott die Freiheit des Willens geschenkt hat, erwartet er, daß sie ihn liebt. Nicht, weil Gott der Liebe der Geschöpfe bedürfte, sondern allein deshalb, weil die Schöpfung allein in der Liebe ihrer von Gott gegebenen Bestimmung gerecht wird und so die Glückseligkeit, nach der sie sich sehnt, erlangt. Doch sie kann sich auch gegen diese Bestimmung stellen und somit liegen in dieser Welt das Gute und das Böse, Liebe und Begierde in ständigem Kampf miteinander Die Menschen aber, die in Liebe an Gott festhalten und somit das in ihnen angelegte Bild Gottes vervollkommnen, werden dereinst das Ziel ihrer Sehnsucht erreichen. Sie werden Gott sehen, wie er ist.
Bevor ich diese Thematik nun im einzelnen erläutere, möchte ich kurz zeigen, daß Hugo mit dem Liebesbegriff eine zu seiner Zeit hochaktuelle Thematik aufgreift. Hinzuweisen ist hier auch auf Richard von Sankt Viktor, der einige Jahre nach Hugo sein Werk über die Trinität ganz unter das Thema der Liebe stellt, die Trinität als consummatio caritatis, als Vollendung der Liebe.
Anselm von Canterbury markiert einen Wandel im Sprechen von der Liebe. Im Frühmittelalter konnte durchaus eine eher formale Beziehung, wie ein politisches Bündnis, ein Gefolgschaftsverhältnis, oder das Zusammenleben von Mönchen als Liebe bezeichnet werden. Liebe gibt es innerhalb der natürlichen Bande der Familie, aber auch in Gruppen, die ein gemeinsames Ziel verfolgen, oder in der Vereinigung von Seelen auf ein gemeinsames Ideal hin. Bei Anselm kommt es jedoch mehr als zuvor in seiner Sprache zu einem Ausdruck von Emotionalität. Zudem kommt bei ihm in der Freundschaftsliebe der Aspekt einer gewissen Ähnlichkeit zwischen Gott und Mensch in der Liebe zu tragen. Anselms Freundschaftstheologie steht in einem engen Zusammenhang mit der Kontemplation des göttlichen Urbildes. Die Würde der Freundschaft besteht darin, daß sie als einzige der Beziehungsformen der geschaffenen Welt, eine im Wesentlichen unveränderte Fortsetzung ihrer Existenz im Himmel kennt.
Nicht zuletzt geht das neue, mehr emotionale Reflektieren und Schreiben über die Liebe mit der in der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert aufkommenden Troubadourdichtung zusammen. Auch in der neuen Literaturgattung des höfischen Romans ist die überwiegend emotionale Liebe ein Hauptthema. Es scheint ein Bewußtseinswandel in der Gesellschaft stattgefunden zu haben, der seinen Niederschlag auch in der Theologie dieser Zeit fand. Es gibt in dieser Zeit zahlreiche Kommentare zum Hohenlied. Das Sprechen über die Liebe ist zum zeitbeherrschenden Thema geworden. Theologische Werke, in denen die Liebe einen weiten Raum einnimmt, erwiesen sich als modern und auf der Höhe der Zeit.
Doch was meint Liebe? Nicht erst in der heutigen Zeit läßt sich feststellen, daß das Wort Liebe eine Vielzahl an Bedeutungen hat. In der lateinischen Sprache sind es vor allem drei Worte, die im Deutschen mit Liebe wiedergegeben werden, nämlich amor, dilectio und charitas. Auch im Lateinischen ist es schwer, eine klare Abgrenzung zwischen den drei Begriffen vorzunehmen.
Das Wort amor war schon im klassischen Latein geläufig, wird aber von der Vulgata kaum verwendet und findet eigentlich erst durch Augustinus Aufnahme in den kirchlichen Sprachgebrauch. Das Wort charitas ist im klassischen Latein eher philosophisch besetzt, ihm entspricht das Verb diligere. Beide sind in der Vulgata die typischen Ausdrücke für christliche Liebe. Das Wort dilectio wurde erst durch die Christen in die Schriftsprache eingeführt. Es ist in seiner Bedeutung weitgehend identisch mit charitas, wird jedoch seltener gebraucht.
Hugo von Rouen verwendet am häufigsten den Begriff charitas. Dieser ist bei ihm durchweg positiv unterlegt. Der Gegenbegriff zu charitas ist die cupiditas. Charitas ist entweder die vollkommene Liebe, die Gottes Wesen eigen ist, oder die Liebe, mit der der Mensch Gott, sich selbst und den Nächsten in rechter Weise liebt. Es ist auffällig, daß es für die Liebe Gottes und die Liebe des Menschen keine unterschiedlichen Begriffe gibt, obwohl sich beide trotz aller Gemeinsamkeiten deutlich voneinander unterscheiden.

I. Deus Charitas est – Der gute Gott und seine gute Schöpfung

1. Liebe als Die Wesenseigenschaft Gottes

Wenn man recht bedenken will, was Liebe ist, so muß man von Gott seinen Ausgangspunkt nehmen, der in seinem Wesen Liebe ist und der Ausgangspunkt und das Ziel aller Liebe. Was bedeutet es, daß Gott in seinem Wesen Liebe ist?
Hugo schreibt über das Wesen Gottes:
„Gott ist in höchstem Maße wahr und wahrhaft der Höchste, er ist das einfache Gut, vollkommen, unveränderlich, einzig. [...] Die Dreiheit ist nicht größer als die Einheit und die Einheit selbst nicht kleiner als die Dreiheit. Denn diese Dreiheit bleibt im ganzen einfach. [...] Drei sind es wegen der Eigenheit der Personen, einer wegen der unteilbaren Gottheit. Daher verhält es sich so, daß, wenn etwas über die einzelnen [Personen] gemäß der Substanz ausgesagt wird, dies zugleich von allen, nicht mehrfach, sondern einfach ausgesagt wird.“ (I, 1, 1141)
Die Einfachheit des Wesens bedeutet (nach Augustinus, De Civitate Dei XI, 10), daß „es ihm eigentümlich ist, nichts zu besitzen, was es auch verlieren könnte, oder wenn zwischen Besitzer und Besitz kein Unterschied besteht.“ So gibt es in Gott nicht die Substanz und daneben verschiedene Eigenschaften, die dieser Substanz zugeschrieben werden können, ihr aber nur äußerlich anhaften, sondern alle Aussagen über Gott beziehen sich nur auf die Substanz. Alles, was Gott ist, ist er unveränderlich und vollkommen seinem Wesen nach.
Diese Vollkommenheit bedeutet aber kein Höchstmaß an Quantität, sondern an Qualität. Körperliche Größen nehmen durch Addition an Größe oder Gewicht zu, bei geistigen Größen, wie beispielsweise den Tugenden, ist das Wachstum nicht körperlich meßbar, sondern geschieht der Vollkommenheit nach. Die Eigenschaften, die Gott besitzt, sind in seinem Wesen in ihrer Vollkommenheit enthalten.
Der christliche Glaube lehrt einen dreifaltigen Gott, Gott ist einer in drei Personen. Dies bedeutet im Hinblick auf die Wesenseigenschaften Gottes, daß diese jeder der drei göttlichen Personen zu eigen sind. Sie sind jedoch in Gott nicht dreimal vorhanden, sondern einfach. Was Gott seinem Wesen nach zukommt, kommt zugleich jeder der drei Personen in gleicher Weise vollkommen im einzelnen zu. Jeder Person kommt für sich Vollkommenheit zu, aber was bereits vollkommen ist, kann nicht noch vollkommener werden, und somit ist eine Wesenseigenschaft Gottes in der Dreiheit der Personen nicht größer als sie einer der drei Personen allein zukommt.

„Gott ist die Liebe.“ (1Joh 4,16) Dieser Satz aus dem Ersten Johannesbrief ist eine substantielle Aussage über Gott. Liebe ist eine Wesenseigenschaft Gottes, die jeder der drei göttlichen Personen in vollkommener Weise eigen ist. So schreibt Hugo:
„Die höchste Liebe, die Gott ist, ist, wo immer sie auch ist, keine geringere oder größere Liebe. Denn keine Substanz oder keine Wesenheit ist irgendwo eine größere oder geringere Substanz oder Wesenheit. Johannes aber sagt: Gott ist die Liebe (1 Joh 4,16). Weil er dies wesensmäßig ist, kann er nicht irgend etwas nicht lieben. Wie deshalb die Weisheit, die Gott ist, alles gleichermaßen weiß, so liebt die Liebe, die Gott ist, alles gleichermaßen. In der einfachen Wesenheit Gottes sind die Liebe und die Weisheit nicht verschieden, sondern völlig dasselbe. Und alles, was von Gott der Substanz nach ausgesagt wird, sei es vom Vater oder vom Sohn oder vom Heiligen Geist, wird als ihm selbst eigen erkannt.“ (II, 1, 1153)

2. Gottes Handeln aus Allmacht und Liebe

Die Liebe Gottes zeigt sich in seinem Handeln. Weil sich in Gott Allmacht und Liebe vereinen, kann er in seinem Tun die Liebe vollkommen verwirklichen.
„Gott macht nämlich nichts, außer daß er liebt, denn wie wir es schon gesagt haben und wollen, daß es oft gesagt wird, er weiß nichts zu tun außer aus Liebe. Gott empfängt nicht anderswoher irgendetwas, sondern allein aus sich und durch sich und in sich weiß und hat und kann er alles, er allein ist vollkommen weise, er entbehrt nichts, sondern genügt sich vollkommen, er ist der eine Allmächtige. Deshalb ist die Ursache dafür, daß er irgendetwas tut, nicht irgendeine Notwendigkeit, sondern allein die Liebe.“ (II, 4, 1157)
Keine Notwendigkeit hindert die Liebe Gottes. Weil Gott keines anderen bedarf und er von niemandem abhängig ist, kann er in seiner Allmacht vollkommen frei wirken. Weil Gott aber die Liebe ist, geschieht alles, was er tut, aus Liebe. Jedwede Freiheit hat in Gott ihr Urbild. Sein Handeln wird von keiner Ursache bestimmt, die außerhalb seiner selbst Gott läge. Gott wirkt allein aus sich und seine Liebe ist die Ursache alles seines Handelns.

a) Deus fecit omnia sola charitate – Schöpfung aus Liebe

Dieses liebende Handeln Gottes zeigt sich in der Schöpfung. Alles, was ist, ist von Gott geschaffen. Gott „wird wahrhaft der Ursprung aller Schöpfung genannt, der sie in seiner allmächtigen Kraft aus dem Nichts schaffen wollte.“ (I, 1, 1442) Alles, was ist, existiert, weil Gott es wollte. Gott ist der Ursprung alles Geschaffenen und es gibt kein zweites Ursprungsprinzip neben dem dreifaltigen Gott. Welt und Mensch sind Gottes Schöpfung und lassen sich nicht unabhängig von Gott, dem Schöpfer, erklären. Hugo befindet sich mit seinem Denken im Umfeld der theologischen Summen, die im 12. und 13. Jahrhundert entstanden sind. Ihnen allen ist gemeinsam, daß sie die faktische Geschichte der Menschen in ihrer ganzen Breite grundlegend als die tatsächliche Geschichte von Gottes Heil in seiner Welt verstehen. Menschliche Geschichte ist nicht unabhängig von Gott zu denken. Geschichte besteht nicht in erster Linie aus den Werken und Taten von Menschen, sondern in der Geschichte zeigt sich, wie Gott das Heil für sein Volk wirkt.
„Wenn wir nach dem Grund dafür fragen, warum Gott alles gemacht hat, weshalb er das Geschaffene so ordnet und lenkt, kann man antworten, daß Gott des Geschaffenen nicht bedurfte, noch bedarf, noch jemals bedürfen wird. Allein aus Liebe [...] hat er alles geschaffen.“ (VII, 2, 1232) Seine Liebe verschenkt Gott an seine Geschöpfe, denen er in seiner Güte Anteil an seiner Glückseligkeit schenken möchte. Gott hat nicht die Welt geschaffen, um sein eigenes Glück zu vermehren, sondern um die Schöpfung glücklich zu machen. Gott hat es jedoch so beschlossen, daß die Schöpfung nicht von Natur aus Anteil an seiner Glückseligkeit hat. Nur die vernunftbegabte Schöpfung, Engel und Mensch, sollte durch den rechten Gebrauch von Einsicht und Verstand diese Glückseligkeit geschenkt werden. Es ist Aufgabe der vernunftbegabten Schöpfung, im Erkennen, Lieben und Loben Gottes diese zu erlangen. Was das genau bedeutet, werde ich später bei der Frage nach der Freiheit des Willens näher erläutern.

b) Gut und Böse

Aus dem Gutsein Gottes schließt Hugo auf das Gutsein der Schöpfung. Weil Gott „aber einzig und zuhöchst das Gute ist, ist alles, was von ihm geschaffen ist, auch selbst gut. Gut sage ich, aber nicht das höchste Gut, weil es geschaffen ist. [...] Gut ist jener, gut sind alle seine Werke.“ (III, 1, 1165) So heißt es im Schöpfungsbericht im Buch Genesis: „Gott sah alles, was er gemacht hatte, und es war sehr gut.“ (III, 1, 1165)
Dennoch läßt sich die Tatsache nicht leugnen, daß man gleichsam auf Schritt und Tritt in der Welt dem Bösen begegnet. Wie lassen sich die Lehre vom Gutsein alles Geschaffenen und die Erfahrung des Bösen miteinander in Einklang bringen? Dies ist ein Problem, das zu allen Zeiten die Menschen beschäftigt hat. Schon Epikur hat diese Frage ähnlich ausgesprochen: „Wenn ein Gott ist, woher dann das Böse? Woher aber das Gute, wenn keiner ist?“ Anders formuliert hieße das, wenn Gott das Böse gemacht hätte, so wäre nicht alles gut, was er gemacht hat. Dies würde aber der Aussage vom Gutsein der Schöpfung widersprechen. Wenn jedoch ein anderer das Böse gemacht hätte, so wäre Gott nicht der Schöpfer von allem und dies würde zu der irrigen Annahme eines zweiten Schöpfers neben Gott führen. Gott ist aber der alleinige Schöpfer. „Wenn du daher alles, was ist, in einer kurzen Summe zusammenfassen willst, so ist alles, was ist, entweder Schöpfer oder Schöpfung.“ (III, 1, 1165)
Woher kommt aber dann das Böse? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, kommt es zunächst auf die richtige Definition dessen an, was das Böse ist. Das Böse an sich ist nicht irgendeine Beschwerlichkeit wie Krankheit, körperliches Leid oder geistige Unruhe und Mühe. Solches müssen auch die Gläubigen ertragen und werden deshalb nicht böse genannt. „Als das Böse im eigentlichen bezeichnen wir das, was wir nach der Bewertung der Gerechtigkeit als verdammenswert verurteilen. Was aber nach dem Gesetz der Gerechtigkeit verdammenswert ist, das nennen wir auch Sünde. Jeder, der daher diejenigen Dinge tut, die eigentlich Böses sind, wird mit Recht auch selbst eigentlich ein Böser genannt. Wenn wir aber sehen wollen, wo jenes eigentliche Böse ist, entdecken wir, daß es nirgendwo anders ist, als allein im vernünftigen Willen.“ (III, 2, 1167) Das Böse an sich ist also allein moralischer Art.
Der Tradition gemäß hat für Hugo das Böse kein Sein an sich, sondern ist nur die Wegnahme eines Guten. „Deshalb ist das, was wir das Böse nennen, keine Natur, nicht irgendeine Sache; sondern dem Mißbrauch oder der Vernachlässigung des Guten wurde das Wort ‚Böses’ zugewiesen.“ (III, 4, 1168) Änlich auch Augustinus: „Das Böse hat kein Wesen, vielmehr wird der Verlust des Guten böse genannt.“ (De Civitate Dei, XI, 9) Das Böse entsteht dadurch, daß der vernünftige Wille sich gegen das Gute und damit gegen Gott entscheidet. Eine Entscheidung gegen Gott ist immer eine Entscheidung für das Böse und ist immer auch Sünde.
Die Tatsache, daß das Böse nur das Fehlen eines Guten ist, versucht Hugo mit verschiedenen Überlegungen zur Aussageweise von Begriffen zu erläutern. So gibt es Begriffe, die etwas benennen, andere aber, die nur das Fehlen von etwas anzeigen und nichts eigenes benennen. So wird als ein Böser ein Mensch oder Engel bezeichnet, dem es an Gutsein fehlt. Ein Böser ist gleichsam ein Nicht-Guter, er wird nach dem Mangel an etwas Positivem definiert. Dies gilt auch für moralische Begriffe. „Das Wort Güte beispielsweise bezeichnet seine Sache durch Nennen und Anzeigen. Aber Bosheit bezeichnet […] das Fehlen der Güte.“ (IV, 11, 1188) Mit allen Begriffen, die das Böse bezeichnen, wird nicht etwas Neues ausgesagt, sondern nur, daß einem bestehenden Gut etwas fehlt.
Somit braucht dem Bösen auch keine Ursache zugeschrieben zu werden. Für Hugo ist die Ursache des Bösen im Grunde genommen nichts. „Sie ist keine Wirkung, vielmehr ein Rückschritt. Ein Rückschritt, sage ich, von dem, was gut ist, zu dem, was nicht gut ist, oder von dem, was das Höchste ist, zu dem, was geringer ist.“ (IV, 10, 1187) Da das Böse nur eine Wegnahme des Guten ist, bedarf es keines Schöpfers. So können die beiden Fehlschlüsse, daß das Böse von Gott komme und somit nicht alles, was Gott geschaffen hat, gut sei, oder daß es von jemand anderem als Gott geschaffen sei und somit Gott nicht der alleinige Schöpfer von allem sei, umgangen werden.

c) Gott, der Allerhalter

Gott ist es, der bleibend in seiner Schöpfung wirkt und sich um sie sorgt. Hugo bekräftigt, daß „keine, bestimmt keine Veränderung der Dinge noch irgendeine Kraft der Bösen den göttlichen Plan umstürzen kann. Weil ja in ruhiger Gleichheit, ordnet er den Willen der vernünftigen Lebewesen.“ (III, 4, 1169) So wird das Böse, auch wenn es oft so scheint als habe es die Oberhand, doch niemals über das Gute siegen. Gottes Liebe ist bleibend in der Schöpfung wirksam, denn „jene göttliche und vollkommene Liebe, die außer aus Liebe nichts zu tun weiß, hört nicht auf, ihrer Schöpfung durch ungeschuldete Geschenke Gutes zu tun.“ (II, 3, 1156) Gott ist kein Gott, der eine Welt schafft, um sie dann gänzlich sich selbst zu überlassen, sondern er will seiner Schöpfung einwohnen und ständig in ihr wirksam zugegen sein. Die Ruhe Gottes am siebten Tag ist nicht so zu verstehen, daß Gott etwa für immer sich von seinen Werken ausgeruht hätte. Jesus sagt vielmehr selbst: „Mein Vater ist immer am Werk, und auch ich bin am Werk (Joh 5,17). Immer ruht er also und hört dennoch niemals auf, tätig zu sein. Er ruht, nichts bedürfend: Er ist am Werk, alles ordnend in alle Ewigkeit.“ (II, 15, 1166) Gott, der alles, was ist, aus dem Nichts geschaffen hat, läßt das Geschaffene nicht wieder ins Nichts zurückkehren. Er gibt allem, was er geschaffen hat, eine besondere Qualität. Die Schöpfung ist mehr als nur geformte Materie. Gott nimmt alles, was er geschaffen hat, an und wohnt ihm inne. Letztendlich ist es Gottes Liebe, Gottes Ja zur Schöpfung, wodurch alles Bestand hat.
„Was aber allein unwandelbar und wahr ist muß daher überall sein, weil alles, was wandelbar ist, durch sich auf keinste Weise Bestand haben kann, sondern in ihm und durch ihn und in ihm, der der Höchste ist. [...] Was aber aus dem Nichts geschaffen ist, kehrt nicht ins Nichts zurück. Es bleibt notwendigerweise in dem, durch den es ist. Dazu sagt der Apostel: Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir (Apg 17,28).“ (I, 12, 1148f.)
Es wird den Menschen auf Erden für immer ein Geheimnis bleiben, wie der ewige, unveränderliche Gott eine zeitliche, und damit der Wandelbarkeit unterworfene Welt schaffen kann, und wie es zudem sein kann, daß dieser Gott selbst in der Welt Mensch wird und doch seine Ewigkeit und Unwandelbarkeit nicht verliert. Aber es steht fest, daß der „nicht der Zeit unterworfen ist, der die Zeit geschaffen hat“ (II, 15, 1163). „Denn der Unbewegte bewegt er das Bewegliche, der Ewige das Zeitliche, der Ungeteilte das Geteilte, der Gerechte das Ungerechte, der Gute das Böse.“ (III, 6, 1169)
Hier auf Erden ist es in einzigartiger Weise der Mensch, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist, der sich nach dem Geheimnis Gottes ausstrecken kann. Ihn hat Gott besonders in der Schöpfung ausgezeichnet.

3. Deus hominem ad imaginem et similitudinem suam fecit – Der Mensch, Gottes Bild

Ein besonderer Teil der Schöpfung Gottes ist der Mensch. Er steht „gleichsam in der Mitte zwischen Niederem und Höherem. Er soll sowohl auf Gott hören, aufgrund seines vernünftigen Verstandes, als auch über die niederen Dinge urteilen, aufgrund des Maßes an Einsicht, die ihm von Gott im voraus zugeteilt wurde.“ (VII, 4, 1238) Wir werden hier erinnert an den Schöpfungsbericht, in dem Gott dem Menschen die niedere Kreatur zuführt, damit er sie benenne. Der Mensch soll in rechter Weise die niedere Schöpfung für sich nutzen. Er selbst soll sich ganz seinem Schöpfer zuwenden.
Für Hugo besteht der Mensch aus Leib und Seele. Mit seinem Leib ist der Mensch dem Irdischen verbunden. Die Seele jedoch verbindet den Menschen mit Gott, und durch sie hat der Mensch die Fähigkeit, auf Gott zu hören und seine Gebote zu erkennen. Wenn auch bei Hugo eine genaue Definition dessen, was die Seele des Menschen ist, fehlt, so äußert er sich doch sehr genau zur Entstehungsweise der Seele. Der Leib des Menschen entsteht durch natürliche Zeugung. Die Seele entsteht nicht wie der Leib durch natürliche Zeugung. Hugo übernimmt hier die überlieferte Lehre, daß die Seele eines jeden Menschen von Gott neu aus dem Nichts geschaffen wird.
Durch seine Seele ist der Mensch Bild Gottes. Die Grundlage für diese Aussage bildet der Schöpfungsbericht, in dem es heißt, daß der Mensch nach dem Bild Gottes geschaffen ist (vgl. Gen 1,27). Im Ersten Korintherbrief heißt es: „Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht.“ (Vgl. 1Kor 13,12) Diese Stelle bezieht Hugo auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen. Der Mensch ist der Spiegel, in dem das Bild Gottes hier auf Erden sichtbar ist, jedoch nur umrißhaft und in großer Undeutlichkeit. Hugo schreibt dazu: „Mose hat im Buch Genesis geschrieben, daß Gott den Menschen nach seinem Bild, ihm ähnlich, geschaffen hat. Dieses Bild nennt, wie wir meinen, der Apostel Spiegel. Denn in diesem Bild vermögen wir gegenwärtig wie in einem Spiegel Gott zu sehen, aber umrißhaft, das heißt in großer Undeutlichkeit.
[Denn die vernünftige Seele, die nach dem Bild Gottes geschaffen ist, hat gleichsam drei [Eigenschaften], nämlich, daß sie sich einsieht, daß sie sich ihrer erinnert und daß sie sich liebt, wobei sie dennoch eine ist.“ (I, 9, 1146)
Die Gottebenbildlichkeit des Menschen zeigt sich in der Seele, die mit Vernunft und Verstand begabt ist. Hugo benutzt hier weitgehend augustinisches Gedankengut. Augustinus nennt den Menschen „eine verstandesbegabte Substanz, die aus Leib und Seele besteht“ (De trinitate XV, 7.11). In seiner Seele, deren Haupt, Antlitz oder Auge gleichsam der Geist ist, ist der Mensch Bild Gottes, denn der Mensch heißt „nicht in bezug auf alles, was zu seiner Natur gehört, sondern nur in bezug auf den Geist Bild Gottes“.
Das Zeugnis der Heiligen Schrift und die Tradition nach Augustinus weisen also eindeutig auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen hin. Diese seigt sich in der Seele des Menschen. Durch sie ist der Mensch in besonderer Weise mit Gott verbunden. Weil der Geist des Menschen in ausgezeichnetem Sinne das Abbild des göttlichen Geistes ist, ist der Mensch zu wahrer Erkenntnis, die letztlich Gotteserkenntnis ist, fähig. Diese Erkenntnis kann aber nicht sein ohne Liebe. (Vgl. dazu auch DL, Lib. I, I, PL 192, 1155: „Qui non diligit non novit Deum“ (1 Joh 4,8).)]

In der Liebe zeigt sich die Gottebenbildlichkeit des Mensch am deutlichsten. Die Liebe „ist die Tugend, durch die die vernunftbegabte Schöpfung, wenn sie an ihr festhält, ihrem Schöpfer ähnlich wird; wenn sie ihr aber fehlt, bleibt sie ihm unähnlich. Jeder also, der in allem, was er bedenkt oder tut oder spricht, von der Liebe bewegt wird, erweist sich seinem Schöpfer ähnlich, der gleichsam allein aus Liebe alles wirkt.“ (II, 5, 1157) Denn so heißt es im Ersten Johannesbrief (4,16): „Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm.“
Die Gottebenbildlichkeit ist etwas, das der Mensch vervollkommnen soll. Diese Vervollkommnung ist dadurch zu erlangen, daß der Mensch, der von Gott gut geschaffen ist und die Möglichkeit in sich hat, das Bild Gottes in sich auszuprägen, Gott, dem vollkommen Guten, anhangt. Indem der gute Mensch dem vollkommen guten Gott anhangt, wird der Mensch besser. Dies bewirkt die Liebe. Das, was gut ist, wird besser, wenn es sich am höchsten Gut, das Gott ist, festmacht. So ist „dessen Vollkommenheit, die durch die Liebe dem anhängt, der der Höchste ist, am größten.“ (IV, 6, 1184) Wie Hugo diese Liebe darstellt, möchte ich im folgenden näher erläutern.

II. Charitas virtus – Liebe, eine Tugend

1. Te enim de charitate loquentem libenter audio – Das Lob der Liebe

[Gott ist die Liebe. Die Liebe gehört zum Wesen Gottes. Gott „tut nichts, außer daß er liebt, weil er, wie wir schon gesagt haben und wollen, daß es oft gesagt werde, nichts zu tun weiß außer aus Liebe.“ (II, 4, 1157) Diese Liebe Gottes drängt nach außen und manifestiert sich in der Schöpfung. Der Mensch ist in der Schöpfung besonders ausgezeichnet, weil er nach dem Bild Gottes geschaffen ist. Er erweist sich als seinem Schöpfer ähnlich, wenn auch er „in allem, was er bedenkt oder tut oder spricht von der Liebe bewegt wird.“ (II, 5, 1157) In der Liebe werden sich Schöpfer und Geschöpf ähnlich. Die Liebe ist von größter Bedeutung. Dies soll zunächst an Hugos Weise, über die Liebe zu sprechen, gezeigt werden.]
Der Liebesbegriff durchzieht die Sieben Bücher der Dialoge, und manchmal hebt Hugo geradezu zu einem Lobpreis der Liebe an. Der Dialogpartner Hugos ermuntert ihn dazu, über die Liebe zu sprechen:
„Fahre fort, denn ich höre dich sehr gerne über die Liebe sprechen! - Liebster, unser Mittler ist uns wahrhaft als Gott und Mensch erschienen und hat uns die Liebe, mit der wir Gott und Mensch lieben sollen, gnädig eingegossen. Dieses Geschenk aber hat er nach seiner Auferstehung reichlich ausgeschüttet, auf die Erde aufgrund der Liebe zum Nächsten, vom Himmel aufgrund der Liebe zu Gott. Das ist die Tugend, in der die vernünftige Schöpfung, wenn sie an ihr festhält, ihrem Schöpfer ähnlich wird. Wenn sie sie aber entbehrt, bleibt sie ihm unähnlich. [...]
Es steht fest, daß wir diese eine Liebe in allem nachahmen müssen! Denn allein durch die Liebe können wir in das Himmelreich gelangen, wenn wir auch nicht in allen Sprachen sprechen, wenn wir des prophetischen Redens entbehren, wenn wir nicht alle Geheimnisse noch alle Weisheit besitzen, wenn wir den Armen entweder, weil wir nichts haben oder weil wir von einer anderen Notwendigkeit abgehalten werden, nichts gewähren, wenn wir unseren Leib keineswegs, so daß er brennt, übergeben, außer wenn es um Christi willen erforderlich ist. Der Glaube kann freilich ohne die Liebe sein, aber er nützt nichts ohne die Liebe. Denn auch die Dämonen glauben, aber sie erzittern, weil sie nicht lieben. Der Glaube aber, der mit der Liebe ist, ist nützlich. Denn der Apostel sagt: In Jesus Christus ist weder die Beschneidung etwas noch das Unbeschnittensein, sondern allein der Glaube, der in der Liebe wirksam ist (Gal 6,15).
Nichts also übertrifft die Liebe, in der allein Gott und Mensch verbunden sind, in der der Chor der himmlischen Mächte mit Gott vereint wird. Diese Liebe gewährt den Himmlischen Glückseligkeit und den Irdischen Gerechtigkeit. Sie ist es, durch die die Schuld der Welt getilgt wird, durch die die Unterwelt ausgeplündert wird, durch die jenes gezückte Schwert umgekehrt wird und durch die die Pforte des Paradieses geöffnet wird. Diese Liebe ist es, ich betone es, durch die der Teufel, weil er sie entbehrte, aus dem Himmel, der Erstgeschaffene aus dem Paradies gefallen ist.“ (II, 5, 1157f.)
Die Liebe hat ihren Ursprung in Gott. Durch die Menschwerdung hat Gott uns in Christus seine Liebe offenbart. Da Christus wahrhaft Gott und Mensch ist, konnte er den Menschen die Liebe eröffnen, mit der Gott und Mensch zu lieben sind. Er hat den Menschen dadurch befähigt zu lieben, daß er nach seiner Auferstehung den Heiligen Geist gesandt hat. Im Heiligen Geist wird die Liebe Gottes im Menschen auf besondere Weise wirksam. Da er Gott ist und von Gott kommt, kann der Mensch mit seiner Hilfe Gott lieben. Der Mensch vermag nicht allein von sich aus zu lieben, sondern nur durch Gottes Hilfe im Heiligen Geist. Diese Hilfe aber gewährt Gott allen, die sie annehmen wollen. Das Geschaffene konnte Gott „durch das Gut der Liebe niemals anhangen […] ohne das Geschenk des Heiligen Geistes, der keinen verläßt, außer den, der ihn zurückweist. […] Ohne diesen ist alles, was auch immer irgend jemand tut, böse. Deshalb erbitte dir in allem, was du tust, vom höchsten Gut das Gut der Liebe, das heißt vom Heiligen Geist das Geschenk der Liebe.“ (VII, 2, 1235)
Näher erläutert Hugo die Liebe als Tugend im folgenden Abschnitt, der viele Anspielungen auf die Heilige Schrift enthält. Der erste Teil weist eine große Ähnlichkeit mit dem Hohenlied der Liebe aus dem Ersten Korintherbrief auf (vgl. 1Kor 13,1-13), wenngleich sich bei Hugo doch einige entscheidende Änderungen finden. Wie der Apostel sein Hoheslied mit einer Aufforderung beginnt - „Streben wir aber nach den höheren Gnadengaben!“ (1 Kor 12,31) - und es auch mit einer solchen beendet - „Jagt der Liebe nach!“ (1 Kor 14,1) - so beginnt auch Hugo mit einer Aufforderung: „Es steht fest, daß wir diese eine Liebe in allem nachahmen müssen!“ Paulus formuliert die Bedeutung der Liebe dahingehend, daß alle anderen Güter nichts nützen, wenn die Liebe fehlt. Hugo macht im Gegensatz dazu deutlich, daß allein die Liebe ausreicht, um in das Himmelreich zu kommen, auch wenn andere Güter fehlen. Für Hugo und Paulus werden als Güter die Gabe des Redens in verschiedenen Sprachen, die Prophetie, die Kenntnis von Geheimnissen und die Erlangung von Weisheit genannt. Diese sind nach Paulus ohne die Liebe wertlos. Hugo meint, daß der, der die Liebe hat, auch ohne diese Gaben in das Himmelreich kommen kann. Die Liebe allein kann auch retten, wenn ein Mensch den Armen nichts geben kann, weil er selbst nichts besitzt. Andererseits weist Hugo darauf hin, daß, wenn die Umstände es erfordern, der Mensch sich um Christi Willen dem Feuer übergeben muß, weil in diesem Fall die Liebe allein zum Heil nicht genügt. Die Liebe muß bereit sein, wenn es notwendig ist, um Christi willen in den Tod zu gehen.
Wie für Paulus, so gilt auch für Hugo, daß der Glaube als positives Gut ohne die Liebe nichts nützt. Der Glaube muß mit der Gottesliebe verknüpft sein. Diese Verbindung gilt als so ausschlaggebend, daß die Liebe als das dargestellt wird, was den Glauben zum Leben bringt, nur der durch die Liebe sich bewegende Glaube sei Glaube des Christen oder überhaupt ein Glaube. Hier gilt für Hugo nicht, daß die Liebe ganz ohne den Glauben das Heil erlangen könnte. Es ist ja gerade der Glaube, der in der Liebe wirksam ist, der notwendig ist, um in das Reich Gottes zu gelangen.
Die Liebe verbindet all jene, die im Reich Gottes zusammenkommen. Hugo zeigt auf, was für den Eintritt in dieses Reich notwendig ist. Es ist allein die Liebe. Sie vereint die Menschen und die Himmelschöre mit Gott. Den Himmlischen gewährt sie die Glückseligkeit. Denen, die in den Himmel gelangen, ist die Liebe auf ewig gefestigt, und sie erhalten von Gott die Glückseligkeit als Geschenk. Auf Erden herrscht die Gerechtigkeit, weil die Scheidung zwischen Guten und Bösen noch zu vollziehen ist.
Wenn auch der Mensch durch den Sündenfall gegen die Liebe verstoßen hat, so hört doch Gott niemals auf zu lieben, und er hat in Christus die Liebe auf wunderbare Weise erneuert. Durch die Liebe Gottes, die durch den Tod Christi am Kreuz deutlich wird, wurde die Schuld der Welt getilgt. Christus ist in die Unterwelt hinabgestiegen und hat die Gerechten herausgeholt, all jene, die in der Zeit zwischen Sündenfall und Erlösung nicht die Möglichkeit hatten, in das Himmelreich zu gelangen. Auch ihnen wird die Gnade der Erlösung zuteil. Christus hat das Tor der Hölle zerbrochen und den Weg ins Paradies wieder eröffnet. Er hat in seiner Liebe das Flammenschwert der Cherubim, die den Zugang zum Paradies bewachen, umgewendet und das Tor zum Paradies, das Tor zum Himmel, geöffnet. Allein der Glaube, der in der Liebe wirksam ist, genügt, um dort eintreten zu dürfen. So schenkt Gott allen Menschen, die es annehmen wollen, sein Heil.

An einer anderen Stelle preist Hugo die Liebe, „die Mutter aller Tugenden“. Alle Tugenden gehen von der Liebe aus. Ohne Liebe kann es kein tugendhaftes Handeln geben. In der Theologie wird die notwendige innigste Verbindung jeder Tugend mit der caritas betont, und es ist eine weitverbreitete Überzeugung, daß die Tugend auf das Ziel der caritas hingeordnet sein muß. Den Tugenden werden die Laster gegenübergestellt, die ungeordnete cupiditas und die geordnete caritas werden ausführlich bildlich dargestellt.
„Die Liebe, die Mutter der Tugenden, ist überall großartig, nirgends allein, niemals untätig. Sie ist mit dem Ihren zufrieden, will allen Gutes, raubt nicht Fremdes, will nichts Eigenes haben. Sie herrscht auf ewig in dem Haus, das die Weisheit mit den siebenfältigen Pfeilern der Gnade trägt, das sie im Glanz des ewigen Lichtes erhellt und ganz mit guten Werken ausschmückt. Alle ihre Güter bewahrt die glückliche Eintracht, teilt reichlich die Güte aus, gibt in reichem Maße die göttliche Gnade. Je mehr sie ausgeteilt werden, desto mehr werden sie vermehrt. Immer neu, immer unversehrt, gebiert sie neue Söhne, alle frei, gleichsam edel, durch Sittsamkeit hervorstechend, durch Tugenden hervorragend. Denn diese nährt die Demut, bringt die Geduld voran, beherrscht der Gehorsam. Ihre Streitmacht ist den Lastern gefährlich. Sie nimmt die Waffen des Sieges aus der Hand der Weisheit. Standhaft schreitet sie, die die Ordnung der Tugend unbesiegt bewahrt, zu den Kriegen voran. Dort berät die Klugheit, die Gerechtigkeit entscheidet, die Tapferkeit führt aus, die Mäßigung ordnet. Den so Voranschreitenden stürzt das Getümmel der Laster entgegen, das kopfüber hinabstürzt, verschiedenfach lärmt, ungeordnet kämpft, waghalsig anmaßend ist. Denn diese löst ihre Unklugheit auf, wirft ihre Ungerechtigkeit nieder, zerbricht ihre Schwachheit, richtet ihre Maßlosigkeit zugrunde. Gegen die sogleich derart Niedergestreckten und Vernichteten rückt der Chor der Tugenden vor, angeführt durch den Triumphator mit dem Banner des Glaubens. Er überschreitet, kräftiger durch die Stärke der Hoffnung, alles. Bald zur Freude seiner Mutter, die ist die Liebe, gelangend, ruht er beständig in der Anschauung des Wesens der höchsten Dreifaltigkeit.“ (VII, 1, 1229-1231)
Der erste Teil des Textes läßt sich als Allegorie auf einen Abschnitt des Hohenliedes der Liebe aus dem Ersten Korintherbrief sehen. Dort heißt es, daß die Liebe langmütig und gütig ist und nicht ihren Vorteil sucht. Auch in den Worten Hugos kommt diese Bescheidenheit und Güte der Liebe zum Ausdruck. Sie sucht nicht ihren Vorteil, indem sie mit dem Ihren zufrieden ist, nichts Fremdes raubt und nichts für sich allein haben möchte, sondern allen Gutes will. Die Liebe herrscht in dem Haus, das auf die Weisheit gebaut ist. Dieses auf sieben Säulen erbaute Haus der Weisheit wird im Buch der Sprichwörter dargestellt. (Spr 9,1) Die sieben Säulen weisen auf die sieben Tugenden hin, die Gnadengeschenke Gottes sind. Es handelt sich um die drei göttlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe und die vier Kardinaltugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Stärke und Mäßigkeit. Sie tragen das Haus. Gott ist das Licht, das das Haus erleuchtet, und der Mensch schmückt es aus mit seinen guten Werken. Hier wird das Miteinander von Gott und Mensch im Gnadenhandeln Gottes deutlich. Je mehr der Mensch sich für die Gnade Gottes öffnet, desto mehr schenkt Gott diese Gnade. Das Haus der Weisheit, in dem die Liebe herrscht, ist in besonderer Weise die Kirche. Sie ist die keusche Mutter, der immer neue Kinder geboren werden, genährt durch Demut, Geduld und Gehorsam.
Die Tugendhaften bilden eine geordnete Streitmacht, die gegen die ungeordnete Horde der Laster kämpft. Sicher steht bei der Erwähnung der Rüstung des Sieges der Text aus dem Epheserbrief (Eph 6,10-20) im Hintergrund, in dem Paulus die Waffen im Kampf gegen das Böse schildert. Man kann sich bildlich vorstellen, wie das Heer der Tugendhaften geordnet gegen die wilde Horde der Laster anrückt und diese ohne eigene Verluste besiegt. Klugheit, Gerechtigkeit, Stärke und Mäßigkeit stehen gegen Unklugheit, Ungerechtigkeit, Schwäche und Unmäßigkeit. Dem Heer der Tugendhaften schreitet Christus, der Triumphator, mit dem Banner des Glaubens voran. So erreichen die Tugendhaften das Ziel ihres Kampfes, die ewige Anschauung Gottes, in der ewige Glückseligkeit sein wird und ewige Freude. Dort geht dann auch der Satz aus dem Ersten Korintherbrief, daß die Liebe niemals aufhört, wahrhaft in Erfüllung.
Die Schau Gottes, die darin bestehen wird, daß der Mensch Gott sehen wird, wie er ist, beschreibt Hugo im Anschluß an den eben zitierten Text. Der Mensch wird Gott als den Einen und Dreifaltigen erkennen und das Wesen der Dreifaltigkeit verstehen. Den Einen, der das einzige Gut aller ist, wird das Auge der Liebe, von Gott selbst erleuchtet, anschauen dürfen. Hugo preist das Himmlische Jerusalem, das Haus der Liebe, die Stadt des Lichts, die voll ist von Freude und ewiger Anschauung Gottes. Allein die Liebe kann zu diesem Ziel gelangen.
„Höre den Apostel beipflichten: Wir wissen, daß Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten führt (Röm 8,28). Jeder, der daher die Liebe hat, hat alles, was zum Heil führt.“ (III, 14, 1176) Die Liebe führt zum Heil, und Gott führt bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten. Alle Liebe muß auf Gott hin ausgerichtet sein. Die Liebe ist es, die Gott und Mensch verbindet. Je höher der Mensch auf dieser Leiter der Liebe aufsteigt, desto näher kommt er Gott, desto ähnlicher wird er ihm. Nur, wer das Doppelgebot der Liebe in rechter Weise erfüllt, indem er Gott um seiner selbst willen, sich selbst aber und den Nächsten um Gottes willen liebt, kann auf dieser Leiter zum Himmel emporsteigen, erfüllt er es nicht, so stürzt er hinunter. Wie dies im einzelnen zu verstehen ist, möchte ich im folgenden näher darlegen.

2. Charitas triplex funiculus – Das Doppelgebot der Liebe

In der Heiligen Schrift ist die Bedeutung der Liebe grundgelegt. Besonders markant formuliert Christus dies im Doppelgebot der Liebe, das bei allen drei Synoptikern überliefert ist. (Mk 12,28-34 par.) Christus selbst bezeichnet es als das wichtigste Gebot. Die Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes. Durch die Liebe kann der Mensch an der Heiligkeit und Vollkommenheit Gottes Anteil erlangen.
„Auf die Weise aber, wie der höchste Schöpfer zu handeln weiß, indem er nichts tut außer aus Liebe, hat er auch seiner Schöpfung, die er vernunftbegabt geschaffen hat, geboten, daß sie alles, was sie tut, aus Liebe tut. So hätte sie halten können, was ihr die Wahrheit vorschreibt: Seid heilig, denn ich bin heilig (1 Petr 1,16). Und andernorts: Seid vollkommen, wie auch euer himmlischer Vater vollkommen ist (Mt 5,48). Diese Heiligkeit und Vollkommenheit ist nirgendwo außer dort, wo die Liebe ist. Daher wird dir vorgeschrieben, daß du deinen Gott über alles wie Gott lieben sollst und deinen Nächsten nicht wie Gott, sondern in Gott wie dich selbst.“ (II, 6, 1159)

Das Gebot Gottes ist die Liebe, im besonderen das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe. Wer die Liebe nicht hat, kann kein einziges der Gebote erfüllen. Hugo bezieht die Stelle im Jakobusbrief (Jak 2,10) - „Wer gegen eines verstößt, macht sich gegen alle schuldig“ - eindeutig auf die Liebe. (II, 6, 1158) Es gilt auch die Umkehrung dieses Satzes. Nichts, das aus Liebe geschieht, kann Sünde sein. Die Liebe bewirkt vielmehr die Vergebung der Sünden. So heißt es: „Die Liebe deckt viele Sünden zu“, und dem, der viel liebt, wird auch viel vergeben. (II, 6, 1159) So soll alles, was der Mensch tut, aus Liebe geschehen. „Wir wissen, daß Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten führt (Röm 8,28). Wer daher die Liebe hat, hat alles, was zum Heile dienlich ist.“ (III, 14, 1176) Für die rechte Erfüllung der Liebe kommt es auf die rechte Ordnung in der Liebe an.
„Denn in rechter Weise steigt der wahrhaft Liebende in der Ordnung der Liebe von Gott zu sich selbst, von sich selbst zum Nächsten herab und kehrt vom Nächsten her wieder zu Gott zurück. Das ist das dreifache dünne Seil, das nach dem Zeugnis Salomos schwer zerrissen werden kann. Im gegenwärtigen Leben jedenfalls ist dies schwer, im ewigen wird es unmöglich sein. Denn dieses läßt in uns die Liebe beginnen, wenn wir der Wandelbarkeit unterworfen sind, wenn wir diese aber abgelegt haben, wird in uns die Liebe vollendet werden.“ (IV, 14, 1176)
Jede wahre Liebe nimmt ihren Ausgang von Gott, geht über den Menschen, der sich selbst liebt, zum Nächsten, den er liebt wie sich selbst, und kehrt über den Nächsten wieder zu Gott zurück. Die Liebe zu Gott, die Liebe zum Nächsten und auch die Liebe des Menschen zu sich selbst hängen auf untrennbare Weise miteinander zusammen. Hugo vergleicht diese dreifache Liebe mit einem dünnen Seil, das aber dreifach verwoben ist. (Vgl. Koh 4,12b (Vg.): „funiculus triplex difficile rumpitur“.) Wäre es nur ein dünner Faden, könnte er mit Leichtigkeit zerrissen werden, dadurch aber, daß es drei Fäden sind, die untrennbar miteinander verbunden sind, lassen sie sich nur sehr schwer zerreißen. Jetzt in dieser Welt ist die Erfüllung der Liebe ständige Aufgabe des Menschen, in der Ewigkeit aber wird die Liebe vollendet und unvergänglich sein. Alle werden in Liebe eins sein mit Gott und untereinander. An einer anderen Stelle erklärt Hugo genauer, was es bedeutet, den Nächsten wie sich selbst zu lieben.
„Wir lesen, daß Gott das Gebot gegeben hat, daß der Mensch den Nächsten wie sich selbst lieben soll. Daher ist es nötig, daß er zuerst sich selbst liebt: Denn wer sich selbst nicht liebt, liebt auch nicht den Nächsten wie sich selbst. Er liebt aber sich selbst, wenn er Gott liebt. Denn er ist von Gott und verdankt seinem Schöpfer, was er selbst ist. Wenn er also liebt, was er selbst ist, liebt er notwendigerweise den, ohne den er nicht sein kann, was er ist. Indem er geliebt wird, ist gut, was er selbst ist, und indem er nicht geliebt wird, ist auch nicht gut, was er ist. Vor allem schuldet er daher Gott die Liebe, von dem und durch den und in dem er das Sein hat; dann sich, aber nicht in sich, sondern in dem, von dem er das Sein hat, und, indem er ihn liebt, das Gutsein hat. Schließlich soll der, der, indem er Gott liebt, sich selbst liebt, den Nächsten lieben wie sich. Und gemäß dem wie er sich liebt, wird ihm geboten, den Nächsten zu lieben.“ (IV, 14, 1175f.)
Der liebt in rechter Weise sich selbst, wer Gott liebt, von dem das Gute kommt, das der Mensch in sich hat und das er lieben soll. Der Mensch ist dazu aufgefordert, sich als Geschöpf Gottes anzuerkennen und alles Gute in sich als Gabe Gottes zu sehen. Wenn der Mensch erkennt, daß alles Gute in ihm von Gott kommt, und wenn er in sich das Gute, das Gott ihm gegeben hat, liebt, so liebt er, indem er sich selbst liebt, Gott. Der Mensch verdankt sich ganz Gott und hat von ihm das Sein. Wenn er dies erkennt und Gott liebt, so ist der Mensch gut. Gott als den Guten, den Schöpfer und Geber alles Guten, zu erkennen und im Erkennen ihn zu lieben, ist die Pflicht des Menschen. Nur so kann der Mensch das Gute, das Gott in ihm angelegt hat, verwirklichen. Nur wenn der Mensch Gott liebt, liebt er auch sich selbst in rechter Weise, und nur so kann er auch seinen Nächsten lieben.

Die Liebe zum Nächsten geht aus der Liebe zu Gott hervor. Zugleich aber gilt die Autorität des Schriftwortes: Wer seinen Bruder, den er sieht, nicht liebt, wie kann der Gott lieben, den er nicht sieht? (1 Joh 3,20) Ist es also so, daß die Liebe zum Nächsten vor der Liebe zu Gott steht? Dies verneint Hugo. Da Gott es ist, der das Gebot gegeben hat, zu lieben, kann der Mensch dieses Gebot nur in Liebe erfüllen, wenn er zuerst Gott liebt, der der Geber dieses Gebotes ist. Indem der Mensch den Nächsten liebt, erfüllt er Gottes Gebot, und er erfüllt es, weil er zuerst Gott, den Geber des Gebotes, liebt.
„Freilich geht in der Ausführung des Werkes die Liebe zum Nächsten, die Gott zu beachten angeordnet hat, voraus. Aber wenn nicht zuerst der Urheber des Gebotes geliebt wird, wird sein Gebot mit keinerlei Liebe beachtet. Denn es ist geschrieben: Wer sagt, daß er Gott liebt, aber seine Gebote nicht bewahrt, ist ein Lügner (1 Joh 2,4). Deshalb liebt der, der das Gebot nicht befolgt, nicht den Gebotgeber Gott. Daher ist die Liebe zu Gott die Ursache des folgenden. Denn es folgt die Liebe zum Nächsten aus der Liebe zu Gott. Aber weil die Liebe zu Gott nicht erkannt wird, wenn sie sich nicht in der Liebe zum Nächsten zeigt, geht diese dem äußeren Zustand, jene dem inneren Zustand gemäß voraus. Also geht die Liebe zu Gott in der Frömmigkeit des Geistes voraus, und es folgt die Liebe zum Nächsten im Eifer des Werkes. Aber es ziemt sich, daß du weißt, daß es nicht zwei sind, sondern eine Liebe des Geistes, die Gott und den Nächsten liebt. Sie beginnt bei Gott und wird im Nächsten genährt. Bei den Auserwählten hat die Liebe ihren Ursprung in der Zeit, und sie wird in ihnen in der Ewigkeit vollendet.“ (VI, 5, 1221)
Die Liebe zu Gott geht im Geiste der Liebe zum Nächsten voraus, aber die Liebe zu Gott zeigt sich erst in Werken der Liebe dem Nächsten gegenüber. Liebe kann nicht allein nur im Geist des Menschen sein, sondern die wahre Liebe im Geist wird nach außen hin in den Werken sichtbar. Die Liebe zu Gott zeigt sich in der Erfüllung seines Gebotes, das die Liebe zum Nächsten fordert. Liebe zu Gott und Liebe zum Nächsten lassen sich nicht trennen. Es sind keine zwei verschiedenen Lieben, sondern es ist ein und dieselbe Liebe im Menschen, die Gott und den Nächsten liebt. Das eine kann ohne das andere nicht sein, weil die Liebe eine ist und sich nicht trennen läßt in eine Liebe zu Gott, die unabhängig von der Liebe zum Nächsten wäre. Indem der Mensch so Gott und den Nächsten liebt, wächst seine Liebe immer mehr. Jetzt in der Zeit kann die Liebe nie vollkommen sein, in der Ewigkeit aber wird sie von Gott vollendet werden.


Nach dieser Darstellung der Auslegung des Doppelgebotes der Liebe durch Hugo möchte ich nun das Gesagte mit Augustinus und Hugo von St.Viktor vergleichen. Bei Augustinus findet sich in seinem Werk De trinitate eine längere Abhandlung zur Gottes- und Nächstenliebe. Darin definiert Augustinus, was Liebe ist:
„Das aber ist die wahre Liebe, daß wir, der Wahrheit anhangend, gerecht leben und so alles Sterbliche verachten aus Liebe zu den Menschen, in der wir wünschen, daß sie ein gerechtes Leben führen. [...] Da es nämlich zwei Gebote gibt, an denen das ganze Gesetz hängt und die Propheten, die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten, so setzt die Schrift nicht mit Unrecht häufig eines für beide zusammen.“ (De trinitate, VIII, 7.10.)
Wahre Liebe ist Liebe zur Gerechtigkeit. So ist auch im Nächsten nicht das zu lieben, was sterblich ist, sondern das, was diesen Menschen vor Gott gerecht macht. Für Augustinus hängen Gottesliebe, Nächstenliebe und die Liebe des Menschen zu sich selbst eng zusammen. Der Mensch soll Gott allein um Gottes selbst willen, den Nächsten aber und sich selbst um Gottes willen lieben. Was aber den Nächsten anbelangt, so liebt der Mensch in ihm seine Gerechtigkeit und sein Gutsein, das ihn mit Gott verbindet. „Die Gerechtigkeit ist nämlich eine Art Schönheit in der Seele, durch welche die Menschen schön sind.“ (De trinitate, VIII, 6.9.) „Wer also die Menschen liebt, muß sie lieben, weil sie gerecht sind oder auf daß sie gerecht werden.“ (De trinitate, VIII, 6.9.) Wie der Mensch in sich selbst nur das Gute lieben soll, das er von Gott hat, und somit Gott lieben soll, so soll er auch im Nächsten das Gute lieben, und so den Nächsten um Gottes willen lieben. Gott allein ist um seiner selbst willen zu lieben, weil er der vollkommen Gute ist. „So ist Gott zu lieben, nicht als dieses oder jenes Gute, sondern als das Gute selbst.“ (De trinitate, VIII, 3.4.) „Uns selbst aber lieben wir umso mehr, je mehr wir Gott lieben.“ (De trinitate, VIII, 8.12.) Die Gottesliebe ist die wahre Selbstliebe des Menschen. Indem der Mensch sich Gott als dem Guten zuwendet, wird er selbst immer besser. Augustinus verbindet Liebe, Wahrheit und Gerechtigkeit miteinander. Alle drei sind Wesenseigenschaften Gottes. Indem der Mensch die Wahrheit erkennt, die Gott ist, erkennt er auch die Gerechtigkeit, die dieser Wahrheit folgt. In Wahrheit und Gerechtigkeit kann er ein rechtes Leben führen, und dieses besteht darin, daß der Mensch die Liebe lebt. Die Liebe zum Nächsten zeigt sich darin, daß man ihm wünscht, daß auch er ein solches Leben in Gerechtigkeit und Liebe führen möge.
Die Betonung dessen, daß der Nächste nur insoweit zu lieben ist, wie er gut ist oder gut werden kann, findet sich nicht in dieser ausgeprägten Weise bei Hugo von Rouen, wohl aber bei Hugo von St.Viktor. Dieser beschäftigt sich in seinem Werk De sacramentis ausführlich mit der Frage der Gottes- und Nächstenliebe. Er behandelt sie im dreizehnten Teil des zweiten Buches unter der Überschrift „Über die Laster und Tugenden“. Die Liebe ist den Tugenden zuzuordnen. „Tugend aber ist gleichsam eine gewisse Gesundheit und Unversehrtheit der vernunftbegabten Seele, deren Beschädigung Laster genannt wird. Das Werk der Gerechtigkeit aber ist in der Bewegung des vernunftbegabten Geistes, der gemäß dem Willen Gottes einherschreitet, sich erhebend von der Empfängnis im Herzen und nach draußen bis zur Erfüllung in der körperlichen Handlung voranschreitend.“ (De sacramentis, II, XIII, II, PL 176, 526) Es wird hier die Vernunftgemäßheit herausgestellt, die zur Tugend gehört. Tugend beginnt im Geist, der sich dem Guten zuwendet und drückt sich in der guten Handlung nach außen aus. Im Herzen aber gibt es zwei Regungen, die Furcht und die Liebe, durch die die vernunftbegabte Seele zu allen Handlungen angetrieben wird.
„Die Heilige Schrift aber trägt uns die doppelte Liebe, zu Gott und zum Nächsten, auf. Die Liebe zu Gott ist, daß wir ihn so lieben, daß wir uns an ihm selbst erfreuen. Die Liebe zum Nächsten ist, daß wir ihn so lieben, daß wir uns nicht an ihm selbst, sondern zusammen mit ihm selbst in Gott erfreuen. Das heißt, daß wir Gott um seiner selbst willen, den Nächsten aber um Gottes willen lieben sollen [...], das heißt, weil er Gott hat, oder wenn er ihn zufällig noch nicht hat, weil er ihn haben wird, oder daß er ihn haben möge. [...] Liebe also Gott, weil er die Güte ist. Liebe den Nächsten, weil er aus der Güte gut ist, oder wenn er nicht gut ist, daß gut sei, wer gut sein kann. Denn die nicht mehr gut sein können, sind nicht zu lieben und sind auch keine Nächsten, sondern Fremde und Ferne und Ausländer.“ (De sacramentis, II, XIII, VI, PL 176, 528-530)
Gott allein ist um seiner selbst willen zu lieben und der Mensch soll sich allein an ihm erfreuen. Mit dem Nächsten soll er sich gemeinsam an Gott erfreuen. Der Nächste ist nicht um seiner selbst willen zu lieben, sondern um des Guten willen, das er in sich von Gott hat. Hugo von St.Viktor stellt ganz klar heraus, daß nur derjenige ein Nächster ist, der gut ist oder gut werden kann. Wer aber nicht gut ist und auch nicht mehr gut werden kann, der ist keineswegs ein Nächster, sondern ein Fremder, er wird mit den Dämonen verglichen und ist nicht zu lieben. „Nirgends hat uns die Schrift geboten, daß wir die Dämonen lieben sollen.“ (De sacramentis, II, XIII, VI, PL 176, 530)
Hugo von St. Viktor betont, daß es keineswegs drei Gebote der Liebe gibt, sondern nur zwei. Daß der Mensch sich selbst lieben soll, ist kein Gebot. Der Mensch liebt von sich aus schon sich selbst, es ist vielmehr darauf zu achten, daß er sich selbst nicht zu sehr liebt, oder anders gesagt, daß er sich auf rechte Weise liebt. „Der Körper aber ist aus Notwendigkeit zu lieben, die Seele aber um des Guten willen.“ (De sacramentis, II, XIII, VII, PL 176, 532) Hier kommt Hugo von St. Viktor wieder zu dem nun schon vertrauten Gedanken, daß der Mensch Gott liebt, indem er das Gute in seiner Seele liebt. Ihm geht es darum, herauszustellen, daß der Mensch sich selbst nicht zu sehr lieben soll. Daher formuliert er diesen Gedanken so, daß der Mensch sich selbst umso mehr liebt, wenn er Gott liebt. „Wenn also das wahre Gut der Seele Gott ist, liebt der besonders seine Seele, der Gott liebt, weil er das Gute seiner Seele liebt.“ (De sacramentis, II, XIII, VI, PL 176, 533)
Wenn es auch gewisse Unterschiede im Denken von Hugo von Rouen, Augustinus und Hugo von St.Viktor gibt, so folgen doch beide einer gemeinsamen Grundrichtung des Denkens, die ihre Grundlage in der Heiligen Schrift im Doppelgebot der Liebe hat. Gott als das höchste Gut ist um seiner selbst Willen zu lieben. Die Liebe zu Gott geht mit der Liebe des Menschen zum Guten in sich selbst einher, das seinen Ursprung in Gott hat. Liebe zu Gott und Liebe zu sich selbst zeigen sich in der Liebe zum Nächsten. Diesen hat der Mensch nicht um seiner selbst, sondern ebenso wie sich selbst um Gottes willen zu lieben. Ohne die Liebe zum Nächsten kann auch die Liebe zu Gott nicht sein. Die Liebe vollzieht sich in der Seele und drückt sich in den Taten aus. Indem der Mensch aber durch seinen freien Willen den Verstand, der Teil der Seele ist, auf Gott hinlenkt, vermehrt er in sich immer mehr diese Liebe. Hier auf Erden muß die Liebe des Menschen wachsen, in der Ewigkeit bei Gott findet sie ihre Vollendung.

III. Charitas profectus animi – Liebe, Fortschritt der Seele

Hugo definiert die Liebe als Fortschritt der Seele:
„Liebe ist der Fortschritt der Seele, die Gott und in Gott alles liebt. Dagegen ist die Begierde, die weder Gott noch in Gott irgendetwas liebt, der Rückschritt der Liebe. Daher ist die Liebe die erste aller Tugenden, die Begierde aber das erste aller Laster. Die Liebe geht einher mit Demut und Güte, der Begierde folgen Hochmut und Neid. Demut ist die Verachtung der eigenen Erhabenheit wegen der Liebe zu Gott. Hochmut aber ist die Verachtung Gottes wegen der Liebe zur eigenen Erhabenheit. Güte ist die Liebe des Nutzens anderer, der Neid aber hört nicht auf, die Güter anderer wegzunehmen. Die Liebe ist also gleichsam die Mutter alles Guten, wie die Begierde die Wurzel aller Übel ist. Deshalb tragen die göttlichen Vorschriften auf, daß allein die Liebe bewahrt werden soll, und zeigen, daß allein die Begierde vollends gemieden werden soll.“ (IV, 4, 1180f.)

1. Charitas profectus in bonum – Fortschritt, Rückschritt und Vollendung

Der Mensch soll zuerst Gott und in Gott alles lieben. Der Gegensatz zur Liebe ist die Begierde, die der Mensch in jedem Fall meiden soll. Sie liebt weder Gott noch in Gott irgendetwas, sondern liebt auf ungeordnete und verkehrte Weise das um seiner selbst willen, was nur um Gottes willen geliebt werden darf. Durch diese verkehrte Liebe kommt es zu einem Rückschritt in der Liebe. Hugo charakterisiert Liebe und Begierde und deren Eigenschaften näher. Aus der Liebe gehen alle Tugenden hervor, aus der Begierde alle Laster. Zwei wichtige Tugenden sind Demut und Güte. Demütig ist der Mensch gegenüber Gott, indem er aus Liebe zu Gott sich selbst erniedrigt. Gütig ist er gegenüber anderen, indem er aus Liebe tut, was ihnen nützt. Diesen beiden Tugenden stehen die Laster des Hochmuts und des Neides gegenüber. Der Hochmut richtet sich gegen Gott. Er liebt die eigene Größe und verachtet Gott. Neid richtet sich gegen die anderen Menschen und entreißt ihnen, was sie besitzen.
Wenige Zeilen später heißt es: „Die Liebe ist sie selbst als die Grundlage des Gehorsams, der Fortschritt im Guten, der Zugang zu Gott, der Garten der Güte, die Fülle des Glücks. Dagegen ist die Begierde sie selbst als der Ursprungs der Übertretung, der Rückschritt im Guten, der Abfall von Gott, das Zusammentreffen der Schlechtigkeit, die Erfüllung des Elends.“ (IV, 4, 1181) Liebe ist Gehorsam gegenüber Gott. Durch das Erkennen und Befolgen der Gebote Gottes, das in der Liebe geschieht, wird dem Menschen von Gott dereinst der Zugang in sein Reich geschenkt, in das wahre Paradies, in dem die Fülle der Glückseligkeit zu finden ist. Die Begierde aber führt weg von Gott und zerstört das Bild Gottes, das der Mensch in sich trägt. Durch das Zusammentreffen aller Schlechtigkeiten wird der Mensch, der der Begierde anhangt, im Elend enden und verfehlt seine Bestimmung und sein Ziel, zu dem hin er von Gott geschaffen wurde, die Erlangung der ewigen Glückseligkeit. Diese kann nur durch die standhafte Liebe zu Gott erlangt werden.
Durch die Liebe kommt es zu einem Fortschritt in der Seele. Es ist die Liebe, durch die Gott und Mensch am innigsten verbunden sind. Die Liebe ermöglicht es dem Menschen, das überweltliche Gut der Gemeinschaft mit Gott zu erlangen, die in der vollkommenen Glückseligkeit besteht. Der Mensch „sollte und konnte [...] den, von dem er ist, und dem er schuldet, was er ist, vor allen einzig lieben und durch das Verdienst der Liebe glücklich bleiben, freilich nicht in sich, sondern in dem, der der Höchste ist, der wesenhaft lebendig und ewig und glückselig ist.“ (III, 3, 1167)

Ein Mensch hingegen, der nicht nach der rechten Liebe strebt, verliert die ihm eigene Würde, Gottes Ebenbild zu sein. Hugo legt das Psalmwort - „Der Mensch, der, obwohl er in Ehren war, keine Einsicht hatte, gleicht dem unverständigen Vieh und ist ihm ähnlich geworden“ (Ps 48,13) - sehr drastisch aus.
„In Ehren war der, der in sich die Spur der erschaffenden Dreifaltigkeit hatte, den Willen Gottes in den Geboten erkannte, geurteilt hat, daß er ihn halten soll, aber in der Liebe untreu wurde, indem er das, was von Gott ist, über Gott stellte. [...] Er hatte keine Einsicht. Und als der Verstand verdorben war, wurde er dem Lasttier gleich. [...] Die vom Licht der Wahrheit in die Finsternis des Irrtums gestürzt sind, haben die Ähnlichkeit mit Gott in die Ähnlichkeit mit dem Vieh verwandelt.“ (VII, 3, 1237)
Hugo gibt hier eine genaue Definition von Sünde. Sünde ist, wie er auch andernorts sagt, die wissentliche und willentliche Verachtung der Gebote Gottes. Die Ehre des Menschen besteht darin, daß er mit Verstand und freiem Willen ausgezeichnet ist. Dies macht es ihm möglich, die Gebote Gottes zu erkennen und mit seinem freien Urteil sich dafür zu entscheiden, diese Gebote zu halten. Wenn der Mensch aber seinen Verstand nicht in rechter Weise gebraucht und, obwohl er Einsicht hat, dennoch nicht, so wie er es sollte, Gott erkennt und ihn vor alles andere stellt, sondern das Geschöpf vor den Schöpfer stellt, verliert er seine Ehre. Er sollte seine Ähnlichkeit mit Gott erkennen und durch die Erfüllung der Liebe sich dieser Ähnlichkeit würdig erweisen. Indem er aber das Niedere mehr als Gott liebt, verliert er seine Ähnlichkeit mit Gott und wird der niederen Kreatur ähnlich. Seine Ähnlichkeit mit Gott hat er in die Ähnlichkeit mit den Vieh vertauscht.
Noch drastischer als Hugo formuliert Boethius den Gedanken, daß die Bösen ihre menschliche Natur ganz und gar verderben und ihr Sein verwirken. „Ich bestreite nicht, daß die Bösen böse sind; aber ich verneine es unbedingt und gerade heraus, daß sie sind. [...] Was nämlich an der Ordnung festhält und seine Natur wahrt, das ist. Was hingegen von ihr abtrünnig wird, das gibt auch das Sein, das auf seine Natur gegründet ist, gänzlich auf.“ (Philosophiae Consolatio IV) Boethius spricht den Bösen sogar gänzlich das menschliche Wesen ab. „Sie haben darum auch, als sie sich der Schlechtigkeit überlieferten, das menschliche Wesen eingebüßt.“ (Philosophiae Consolatio IV)

Der Mensch erwartet die Vollendung der Liebe, wenn Gott seine Frommen nach dem Kampf dieser Zeit zu sich aufnehmen wird in sein Reich. Dieses Ziel haben die Heiligen bereits erreicht. Sie haben hier auf Erden die Liebe gelebt. „Von denen wir daher wissen, daß sie durch das Verdienst des Lebens vollkommen zu Gott gegangen sind, von denen glauben wir, daß sie mit Christus herrschen und in Christus alles können.“ (VI, 5, 1221f.) Sie können deshalb alles, weil der Wille der Heiligen im Himmel ganz dem Willen Gottes gleichförmig ist, ihr Wille ist ganz Liebe. Sie bewegen sich ganz in Gott, den sie immerfort liebend ansehen. Sie sind Gott gleich, weil sie ihn, der Liebe ist, in Liebe ansehen, wie er ist, wie es im ersten Johannesbrief heißt: „Wir werden Gott ähnlich sein, denn wir werden ihn sehen, wie er ist.“ (1Joh 3,2)
„Aber wo die vollkommene Liebe sein wird, dort wird die Freude wahren und ewigen Friedens sein; dort sei, so heißt es, im besonderen das Reich Gottes, in dem viele Wohnungen sind, unterschieden nach den Graden der Liebe. Dort wird Gott alles und in allem sein. Dort ist es selig zu leben indem Gott selbst so zu sehen ist, wie er ist. [...] Das glauben jetzt die Treuen und sind gerecht. Der Glaube ist das Fundament, auf dem die Kirche erbaut ist. Diese hat Christus in sich gegründet, jener ist der Eckstein, der zum Schlußstein geworden ist, von dem die Liebe sich ergossen hat, in ihm ersteht aus Verschiedenen die eine Kirche, aus Juden und Heiden gesammelt, aus Engeln und Menschen vollzählig gemacht, die mit Gott bleiben wird und ohne Ende glückselig ist. Amen.“ (V, 23. 1215f.)

Die Vollendung der Gottebenbildlichkeit wird darin bestehen, daß der Mensch Gott sehen wird, wie er ist. Hugo preist den Menschen selig, der das Bild Gottes in sich bewahrt. Dieser Mensch gelangt zum Ziel seines Lebens, zur vollkommenen Glückseligkeit, zur ewigen Schau Gottes.
„O glückselig jene Seele, die auf Geheiß der Liebe das Ewige sucht, das die Ähnlichkeit der höchsten Dreifaltigkeit in Herrlichkeit besitzt! Dies bekräftigt der Apostel Johannes, der von der Brust des Herrn schöpft, indem er sagt: Wir werden ihm ähnlich sein, weil wir ihn sehen werden, wie er ist (1 Joh 3,2). [...] Die Ähnlichkeit Gottes wird in uns gebildet durch die Bedeutung der Liebe, durch die Ähnlichkeit in der Tugend.“ (VII, 3, 1237)
In der Ewigkeit wird die Liebe ihre Vollendung finden, durch die der Mensch jetzt seinem Schöpfer ähnlich ist, wenn er seine Gebote befolgt. Alle werden eins sein in der Liebe. Ewige Glückseligkeit in der Liebe Gottes wird dann sein, wenn der Mensch Gott sehen wird, wie er ist. Alles, was der Mensch jetzt in seiner irdischen Begrenztheit nicht erfassen kann, das wird dann offenbar werden. Am Ende wird Gott alles und in allem sein. Das heißt, daß er ganz in seinen Heiligen sein wird. Er wird sich ihnen zeigen, wie er ist, und wenn sie Gott so sehen, werden sie sich nichts anderes wünschen, denn diese Schau Gottes ist die Glückseligkeit. Der vollendete Mensch wird erkennen, daß nirgends anders als in Gott die Glückseligkeit zu finden ist. In der Ewigkeit darf der Mensch diese Glückseligkeit in der Liebe Gottes erfahren. Hugo spricht von einer handfesten Erkenntnis der Liebe Gottes, nicht mehr wie hier auf Erden, wo sie der Mensch nur erahnen kann, sondern ganz deutlich.
„Wir werden ihn sehen, wie er ist. Dann wird es ganz deutlich sein, daß Gott alles Gute in allen war und ist und sein wird. Dies wird die Liebe deutlich sehen, die dann in allen eine sein wird, sowohl den einzelnen sich gegenseitig vollkommen Sehenden und liebenden offenbar, als auch Gott ganz gleichförmig, wie die Schöpfung dem Schöpfer, in vollkommener Einheit. In alle Ewigkeit. Amen.“ (VI, 9, 1228)

2. Liberum arbitrium motus intelligentiae rationalis – Der freie Wille

Wie aber ist dieses Voranschreiten in der Liebe, das seine Vollendung finden wird in der Schau Gottes, für den Menschen möglich? Ist alles allein Gnade, und hat Gott die Vollendung nur einigen Auserwählten vorherbestimmt? Oder liegt es doch in der Verantwortung jedes Menschen hier auf Erden, in der Liebe voranzuschreiten und das Bild Gottes, nach dem er geschaffen ist, in sich auszuprägen? Der Mensch hat von Gott den Verstand und die Freiheit des Willens geschenkt bekommen. Verstand, Freiheit und Wille machen den Menschen Gott ähnlich, der selbst vollkommen in Freiheit wirkt, was er seit Ewigkeit unwandelbar beschlossen hat. Sie recht zu gebrauchen, ist der Mensch immer wieder aufgefordert. Dies kann er jedoch nur mit Hilfe der Gnade Gottes. Tun des Menschen und Gnade Gottes wirken auf eine letztlich für den Menschen nie ganz erklärbare Weise wunderbar zusammen. Dieses Zusammenwirken von Gott und Mensch geschieht in der Liebe, die der Mensch als Geschenk von Gott empfängt und selbst in seinem Denken und Tun vollzieht. Das Streben nach der Liebe macht den Menschen gut. Dafür muß sich der Mensch in seiner Freiheit immer wieder neu entscheiden. Die Freiheit des Willens ist eine besondere Auszeichnung, die Gott der vernunftbegabten Schöpfung verliehen hat. Gott hat beide, Engel und Mensch, vernunftbegabt geschaffen.

Um die Vernunft in rechter Weise zu gebrauchen, hat Gott dem Menschen den freien Willen geschenkt. Dennoch wird es vielen so ergehen wie dem Gesprächspartner Hugos, der sagt: „Die Rede vom freien Willen ist fast in aller Munde. Aber ich gebe zu, daß ich nicht weiß, was es damit auf sich hat.“ - „Der freie Wille ist, wie ich meine, eine gewisse geistige Bewegung des vernünftigen Verstandes, der die Möglichkeit hat, das, was er beschließt, auszuführen. Diese freie Entschlußfähigkeit des vernünftigen Willens hat daher sowohl der Mensch als auch der Engel empfangen, damit er sich über allem seinem Schöpfer zuwende, von der niederen Kreatur lasse und wahrhaft beschließe, dem Schöpfer auf alle erdenkliche Weise zu folgen und das Geschaffene gemäß dem Willen des Schöpfers zu gebrauchen. Aber dieses sein Urteil bleibt keineswegs frei, wenn er nicht das vollbringt, von dem er weiß, daß er es tun soll. Er tut dies, indem er den Schöpfer liebt und dessen Willen – den eigenen hintangestellt – im Dienen anerkennt. Wenn er sich aber weigert zu dienen [...] verliert der Übertreter verdientermaßen die Freiheit des Willens. [...] Indem er daher die Freiheit des Willens verloren hat, bleibt er als Gefangener in der Fessel der Sünde. [...] Nach dem Fall können sie daher nicht frei sein, außer, wenn sie durch Gottes einzigen Sohn erlöst werden.“ (III, 5, 1168f.)
Der freie Wille gehört zum Verstand und ist somit nur der vernunftbegabten Schöpfung zu eigen. Er wird als motus, als Bewegung oder Tätigkeit, bezeichnet. Der freie Wille bewegt den Verstand in eine gewisse Richtung, auf ein Erkenntnisziel hin und hat dann auch die Möglichkeit, die aus dieser Erkenntnis sich ergebenden Konsequenzen auszuführen. Das Ziel aber, auf das der freie Wille den Verstand hin ausrichten soll, ist allein Gott. Wenn der freie Wille den Verstand so auf Gott hin ausrichtet, erkennt dieser, daß Gott der Höchste ist. Der Mensch vermag dann zu unterscheiden zwischen Schöpfer und Geschöpf und erkennt, daß allein Gott, der Schöpfer, um seiner selbst willen zu lieben ist. Erkennt er aber Gott, so erkennt er auch seine Gebote, und er weiß, daß er diese in Liebe zu erfüllen hat. Es ist sodann die Aufgabe des freien Willens, dies auch zu tun. Dem Willen Gottes steht der Eigenwillen des Menschen entgegen. Dieser Eigenwille soll in allem gemieden werden. (In der Regula Benedicti wird an vielen Stellen darauf hingewiesen, daß der Eigenwille zu meiden ist (vgl. Prol 3; 1,11; 4,60; 5,7; 7,12.19.31). Sicher haben Hugo auch diese Stellen als Vorbild gedient.)

Der freie Wille ist gemäß dem Plan Gottes allein dazu da, daß er sich Gott zuwendet, seinen Willen erkennt und erfüllt. Er ist nicht etwa dazu gegeben, in Freiheit entweder Gutes oder Böses zu tun. Er soll vielmehr immer das Böse verwerfen und sich für das Gute entscheiden. Nur so bleibt der Wille wirklich frei. Durch den Sündenfall hat der Wille diese Freiheit verloren. Sie kann ihm nur durch die Erlösung in Christus wiedergeschenkt werden. Zudem kommt der vernünftigen Schöpfung, Engel und Mensch, ein Mangel zu, der aber nicht unbedingt negativ zu werten ist. Vielmehr hat Gott in seinem Plan vorgesehen, diesen Mangel auf noch wunderbarere Weise zu beheben und so beiden mehr zukommen zu lassen, als sie von Natur aus besitzen. Dazu bedarf es des rechten Gebrauchs der Freiheit, die Gott der vernünftigen Schöpfung geschenkt hat.
„Die ewige und höchste Wesenheit, die Gott ist, in sich selbst lebendig, ewig und glücklich, hat wegen des Wohlwollens ihrer Liebe den Engel lebendig und ewig geschaffen; aber, außer wenn er dem Schöpfer anhängt, keineswegs glücklich. Sie hat auch den Menschen gemacht, wenigstens lebendig, aber ohne das Wohlwollen des Schöpfers die Ewigkeit und die Glückseligkeit entbehrend. Deshalb hat jener, der wesenhaft Leben und Ewigkeit und Glückseligkeit ist, wegen seiner unaussprechlichen Liebe dem Engel und dem Menschen den freien Willen geschenkt, durch den jeder von beiden aus Gnade das erlangen kann, was er nicht von Natur aus empfangen hat, der Engel nämlich die Glückseligkeit, der Mensch aber die Ewigkeit und die Glückseligkeit. Weil also jeder von beiden den freien Willen hatte, sollte und konnte jeder von beiden den, von dem er ist und dem er schuldet, was er ist, vor allem einzig lieben und durch das Verdienst der Liebe glücklich bleiben, freilich nicht in sich, sondern in dem, der der Höchste ist, der wesenhaft lebend und ewig und glückselig ist. Diese Liebe (lat.: amor, charitas sive dilectio) wird sowohl beim Menschen als auch beim Engel als deren eigentliches Gut bezeichnet, durch das sie über sich hinaus demütig zu Gott erhoben werden. Daher werden der Engel oder der Mensch, indem sie den ihnen zukommenden freien Willen gut gebrauchen, zurecht gut genannt. Dadurch, daß sie dem anhangen, der der Höchste ist, werden sie, indem sie in voller Liebe zu ihm erhoben werden, ihrer Wandelbarkeit entledigt und der unwandelbaren Herrlichkeit Gottes teilhaftig.“ (III, 3, 1167)
Gott allein ist der Höchste und besitzt seinem Wesen nach Leben, Ewigkeit und Glückseligkeit. In der Güte seiner Liebe hat er die vernünftige Schöpfung, den Engel und den Menschen, geschaffen. Dem Engel hat Gott von Natur aus Leben und Ewigkeit verliehen, dem Menschen allein das Leben. So fehlt dem Engel die Glückseligkeit, dem Menschen Ewigkeit und Glückseligkeit. In seiner unaussprechlichen Liebe hat Gott dem Engel und dem Menschen den freien Willen geschenkt, damit es ihnen möglich ist, aufgrund der Gnade Gottes das zu erlangen, was ihnen von Natur aus fehlt. Sie erhalten es, indem sie Gott allein über alles lieben. Die wahre Glückseligkeit ist allein in Gott zu finden.
Es ist allein die Liebe, durch die der Mensch in seiner Wandelbarkeit und Unvollkommenheit das erlangen kann, was Gott unwandelbar und vollkommen besitzt und in seiner Güte schenken möchte. Der Hinweis auf die Liebe rahmt gleichsam die Abschnitte, in denen Hugo über die Freiheit des Willens spricht. Allein das, was aus Liebe geschieht, findet vor Gott Gefallen. Ohne die Liebe kann kein Werk vor Gott Bestand haben. Gott ist es, „der die Herzen mehr prüft als die Werke, der kein Werk gutheißt, das nicht die Liebe empfiehlt. [...] Aber in allem wird die eine Liebe von Gott verlangt, durch die alles, was geschieht, mit Freuden von Gott angenommen wird und ohne die von ihm mißbilligt wird, was auch immer du tun magst.“ (III, 9, 1171)
Dem Menschen wohnt von Natur aus das Streben nach den ihm fehlenden Gütern inne, und er ist keineswegs zufrieden mit seinem Mangelzustand. Der Mensch strebt nach Ewigkeit und nach Glückseligkeit. Doch nicht alle suchen diese Güter dort, wo sie allein zu finden sind, nämlich bei Gott. Der Mensch steht immer in der Gefahr, daß er das Niedere vor den Höchsten stellt. So verwundert es nicht, daß Hugo konstatiert: „Glücklich freilich wollen alle sein, aber nicht alle suchen die Glückseligkeit dort, wo sie selbst ist.“ (V, 2, 1193) Gott aber hat den Engel und Menschen so geschaffen, daß sie die Freiheit des Willens in rechter Weise gebrauchen können, um so die Glückseligkeit zu erlangen. Wenn der Wille die Vernunft auf das rechte Ziel hin richtet, ist es ihr möglich, Gott zu erkennen, und im Erkennen ihn zu lieben und seinen Willen zu erfüllen.

Von Gott hat der Mensch die Fähigkeit dazu bekommen, ihn zu erkennen und ihn zu lieben. Aus dieser Fähigkeit erwächst zugleich auch die Pflicht, diese in rechter Weise anzuwenden. Um das Rechte zu erkennen, hat der Mensch den Verstand bekommen, den freien Willen aber, um den Verstand auf das rechte Ziel der Erkenntnis, auf Gott, hinzulenken und das Erkannte, den Willen Gottes, auszuführen. Der Mensch kann mit Gottes Hilfe den freien Willen so in rechter Weise gebrauchen. Die Liebe schulden die Geschöpfe Gott aufgrund ihres Geschaffenseins. Gott verlangt nichts Unmögliches. Wenn die vernünftige Schöpfung in Gott bleibt, schenkt er ihr immer mehr die Gnade, das Gute zu tun. Das Gute aber ist die Liebe, und diese ist das eigentliche Gut, durch das die Schöpfung immer mehr mit ihrem Schöpfer vereinigt wird.
Der freie Wille ermöglicht es dem Menschen zu lieben, und er selbst ist ein Geschenk von Gottes unaussprechlicher Liebe. Er dient zur Erlangung des Guten, und er ist selbst ein Gut. Der freie Wille gehört zur guten Schöpfung Gottes und ist Teil von Gottes Plan. Hugo betont, daß der Mensch „den freien Willen vom Schöpfer empfangen hat“ (III, 13, 1174). Er hat ihn deshalb empfangen, um lieben zu können. Denn Liebe kann nicht anders als in Freiheit geschehen. Die Freiheit des Willens ist Teil der besonderen Würde, die Gott dem Menschen hat zukommen lassen. Ein vernünftiges Geschöpf, das die Freiheit des Willens besitzt und somit freiwillig das Gute tut, ist besser als eines, das aufgrund seiner Natur immer notwendigerweise das Gute tun würde. Das lehrt schon der gesunde Menschenverstand:
„Was sagst du? [...] Sag, ich frage dich, was wählst du für dich? Erscheint es dir etwa als besser, von Notwendigkeit gezogen werden als in Freiheit zu leben? Es wäre lächerlich zu glauben, daß du in Notwendigkeit dienen und die Freiheit nicht lieben möchtest. Gott hat die besser geschaffen, denen er die Freiheit des Willens hat zukommen lassen, daß sie das sein können, was sie wollen.“ (V, 2, 1193)
Wichtig ist hier das Wort melius. Freilich hätte es in Gottes Macht gestanden, eine Welt zu schaffen, in der von Natur aus das Gute geschieht und in der es keine Freiheit gibt. Aber das wollte Gott nicht. Gott wollte nicht, daß die Geschöpfe von Natur aus notwendigerweise das Gute tun und schon vollkommen sind. Die freie Entscheidung für das Gute ist besser als ein Tun des Guten aus Notwendigkeit. Nur durch die immer neue Entscheidung für das Gute ist ein Fortschritt möglich, der den Menschen immer näher zu Gott bringt.

3. Cum providentiam Dei respicio, contra haec sentire me sentio – Vorsehung

An dieser Stelle ist der Einwand berechtigt, wie denn die gerade aufgezeigte Freiheit des Willens mit der Vorsehung Gottes in Einklang gebracht werden kann. Wenn Gott alles vorherweiß, so muß doch auch alles so geschehen, wie er es vorherweiß. Geschieht somit nicht alles aus Notwendigkeit? Wenn es aber anders geschieht als Gott es vorherweiß, so würde sich seine Vorsehung doch täuschen. Kann es also eine freie Entscheidung geben, wenn man annimmt, daß Gott alles vorherweiß und sein Vorherwissen richtig ist?

Zunächst bekräftigt Hugo die Wahrheit der göttlichen Vorsehung.
„Wahr, [...] ja wahr ist die göttliche Vorsehung. Wirklich geschieht ihr gemäß alles. Also ist die vernünftige Natur des Engels und des Menschen wirklich gemäß der Vorsehung Gottes geschaffen und beiden die Möglichkeit des freien Willens gegeben. Deshalb hat Gott, wie er es vorhergesehen hat, jeden von beiden mit der Freiheit des Willens ausgestattet geschaffen.“ (III, 10, 1171f.)
Die freie Entfaltung der Schöpfung ist daher möglich, weil es nach Gottes Plan zwei verschiedene Arten von Ursachen gibt. Die eine Art von Ursachen hält Gott allein in seiner Macht und diese ist in sich unwandelbar, die andere Art hat Gott der Schöpfung überlassen hat, und diese ist somit der Freiheit der Schöpfung zugeordnet.
„Denn man muß wissen, daß der, der alles zugleich geschaffen hat, gewisse ursächliche Möglichkeiten der Welt einschloß, die er nicht seiner Macht unterordnete, sondern in ihrer eigenen Macht ließ. [...] Aber die Ursachen, die Gott nach seinem Willen bei sich behielt, hängen nicht von den Ursachen ab, die er in die Welt hineingegeben hat. [...] Auch können die Ursachen, die er immer bei sich hat, denen nicht entgegengesetzt sein, die er nach seinem Willen in den Dingen gebildet hat. Denn der unwandelbare und ewige Wille Gottes kann sich nicht entgegengesetzt sein.“ (III, 12, 1173)
Gottes unwandelbarer Plan läßt der Schöpfung also die Möglichkeit, sich selbst zu gestalten. Jedoch können sich die ewigen Ursachen, die Gott bei sich hat, und jene, die er in Freiheit der Welt überlassen hat, nicht widersprechen, sondern sie ergänzen sich. Diese Grundordnung der Schöpfung steht unumstößlich fest, und so bleibt Gott sich trotz der Wandelbarkeit der Schöpfung immer gleich, und sein ewiger Plan bleibt unumstößlich bestehen.
Die Freiheit der Schöpfung ist kein Widerspruch zur göttlichen Vorsehung. Der Grund dafür, daß trotz des Vorherwissens Gottes die Freiheit menschlichen Tuns möglich ist, liegt darin, daß Gott in der Ewigkeit die Dinge anders erkennt als der Mensch in der Zeit. Für Gott ist alles gegenwärtig. Das hat auch zur Folge, daß für Gott alles notwendigerweise so eintritt, wie er es vorhersieht, wenn auch nach menschlichen Maßstäben ein Ereignis keiner Notwendigkeit unterliegt.
„Nach zwei Arten pflegt man die Notwendigkeit zu bestimmen. Die eine wird einfach, die andere bedingt genannt. Einfache [Notwendigkeit ist], daß jeder Körper betastbar ist. Denn das ist einfach notwendig, ohne alle Bedingung, ohne jede Vorherbestimmung. Bedingte [Notwendigkeit ist] aber, daß, wenn ich weiß, daß jemand liest, es notwendig ist, daß er liest. Notwendig sage ist, nicht aufgrund der Natur des Lesenden, sondern aufgrund der Hinzufügung der Bedingung. Denn was du sicher weißt, kann nicht anders sein, und du kannst es dann nicht anders wissen. Aber den freiwillig Lesenden veranlaßt keine Notwendigkeit zum Lesen; von dem ich jedoch weiß, daß er gerade liest, für den ist es nach dem Gesetz der Bedingung notwendig, daß er liest. So steht auch für die göttliche Vorsehung, indem sie etwas als gegenwärtig betrachtet, fest, daß jenes dann so notwendig ist, obgleich in der gesehenen Sache von Natur aus keine Notwendigkeit besteht.“ (III, 11, 1172)
Für den Menschen gibt es zwei Arten von Notwendigkeit. Die einfache Notwendigkeit ist in diesem Zusammenhang nicht relevant, vielmehr die bedingte Notwendigkeit. Sie besagt, daß immer dann, wenn ein Mensch ein Ereignis beobachtet, es notwendigerweise so geschieht, wie er es beobachtet, denn wenn es anders geschehen würde, könnte es ja nicht als ein auf diese Weise Geschehendes beobachtet werden. Für Hugo steht fest, daß Gott in der Ewigkeit alles als gegenwärtig wahrnimmt. So, wie für den Menschen ein in der Gegenwart beobachtetes Ereignis notwendig geschieht, so geschieht für Gott alles notwendigerweise so, wie er es wahrnimmt, weil er in seiner ewigen Gegenwart alles als gegenwärtig sich Ereignendes wahrnimmt. Auch für Anselm von Canterbury gibt es, weil Gott simul aeterno praesenti ist, keinen Widerspruch zwischen der aufgrund der Freiheit gegebenen Wandelbarkeit in der Zeit und der Unwandelbarkeit in der Ewigkeit.

Vorsehung und Vorauswissen Gottes beziehen sich auf das Gute und das Böse, weil Gott vorausweiß, daß beides geschieht. Davon ist die Vorherbestimmung Gottes zu unterscheiden. Sie bezieht sich nur auf das Gute.
„Deshalb bestimmt Gott den, von dem er vorhersieht, daß er nicht aufgrund seiner Natur, sondern aufgrund eigener Nachlässigkeit sündigen wird, gerechterweise zur Pein voraus, den er ungerechterweise bestrafen würde, wenn er ihn zum Sündigen vorherbestimmt hätte. Wie Gott also keineswegs der Schöpfer des Bösen ist, so bestimmt er auch keinen zum Sündigen voraus. Denn nur von dem er auch der Schöpfer ist, von dem ist er auch der Vorherbestimmer; so ist nicht das Vorherwissen Gottes, sondern vielmehr die Begierde dessen, der sündigt, die Ursache der Sünde. Wenn Gott also auch voraussieht, daß gesündigt werden wird, bestimmt er dennoch nicht zum Sündigen vorher. Für Gott ist seine Sachen vorherbestimmen dasselbe wie vorbereiten: Von dem, der die Sündigenden zur Strafe vorherbestimmt, darf nicht angenommen werden, daß er zur Schuld vorherbestimmt. Wenn er nämlich der Urheber der Schuld wäre, wäre er nicht ein gerechter Einforderer der Strafe. Aber gerechterweise bestimmt er die zur Strafe vorher, die er als durch Schuld ungerecht Werdende vorhersieht. Auch bestimmt er die Seinen zur Herrlichkeit vorher, wie er zur Gerechtigkeit vorherbestimmt.“ (IV, 9, 1186)
Gott sieht vorher, daß das Gute und das Böse geschehen wird, obwohl er nur das Gute will und nur Gutes geschaffen hat. Das Böse geschieht nicht, weil Gott es will, sondern aufgrund der Nachlässigkeit der vernünftigen Schöpfung. Vorherbestimmen aber kann Gott nur zu etwas, das er selbst geschaffen hat. Gott hat die Welt geschaffen, um der vernünftigen Kreatur Anteil an seiner Glückseligkeit zu schenken. Das ist die Vorherbestimmung Gottes für den Menschen, und daraufhin hat Gott den Menschen angelegt, er hat ihn vorbereitet, dieses Ziel zu erreichen. Hugo definiert auf klassische Weise Vorherbestimmung als Vorbereitung zum Guten. So bei Augustinus, der auch Vorherwissen und Vorherbestimmung voneinander trennt. Vorherbestimmung kann seiner Ansicht nach nicht ohne Vorherwissen Gottes sein, wohl aber Vorherwissen ohne Vorherbestimmung. Er nennt die Vorherbestimmung der Guten die Vorbereitung auf die Gnade.
Zum Sündigen kann Gott nicht vorherbestimmen, wenngleich er voraussieht, daß ein Mensch sündigen wird. Der Mensch sündigt aufgrund seiner eigenen Nachlässigkeit. Hingegen hat Gott es vorherbestimmt, daß er den Sünder für diese Nachlässigkeit bestrafen wird, was er ungerechterweise täte, wenn der Sünder nicht aus eigener Schuld sündigen würde, sondern von Gott dazu vorherbestimmt wäre. Alles wird von Gott auf gerechte Weise geordnet. Auch das Böse, das nicht von Gott geschaffen wurde, sondern aufgrund des Mißbrauchs der Freiheit entstanden ist, fügt Gott in sein ordnendes Handeln ein. Nichts steht außerhalb dieses Ordnens Gottes. „Gott ist der Schöpfer und Ordner aller natürlichen Dinge. Aber er ist nicht der Schöpfer der Sünden, sondern nur ihr Ordner.“ (II, 3, 1156) Somit bleibt trotz alles Bösen die gute Ordnung Gottes erhalten. Hugo geht so weit zu sagen, daß durch dieses gerechte Ordnen Gottes den Sündern durch die gerechte Strafe sogar noch etwas Gutes widerfährt und Gott ihnen durch die gerechte Strafe seine Liebe erweist. „Gott straft den, den er liebt, und wenn er ihn nicht liebte, würde er ihn nicht bestrafen.“ (II, 4, 1157)
Um die Freiheit des Menschen aufzuzeigen, macht Hugo deutlich, daß es nicht der Unveränderlichkeit Gottes widerspricht, wenn er Sündern, die unter dem Zorn Gottes standen, durch ihre Umkehr sein Wohlwollen schenkt.
„Daher sammelt der Herr die Seinen nicht nach einem neuen Plan noch liebt er sie mit einer neuen Liebe. Aber indem die Seinen sich zu ihm flüchten und sich zu ihm bekehren, werden sie ihm gut verwandelt, wobei er sich nicht verändert. Gleichsam, wenn sie von Gott zurückweichen, werden sie ihm schlecht verwandelt, wobei er gleichsam unbewegt bleibt. So geschieht es, daß Gott den Guten gegenüber milde, den Bösen aber zürnend genannt wird, wenn sich jene gleichsam verwandelt haben, wandelt er sich doch nicht, wie ein und dieselbe Klarheit eines Glanzes sowohl den gesunden Augen angenehm als auch den kranken stechend ist.“ (I, 3, 1154)
Wenn die Menschen sich von Guten zu Bösen oder von Bösen zu Guten wandeln und es somit scheint, als zeige Gott sich ihnen gegenüber je nach ihrem Verhalten anders, einmal als der zürnende, ein andermal als der schenkende Gott, so ist es doch so, daß Gott letztlich unwandelbar ist. In diesem Sinn sind die ewigen Pläne der Vorsehung Gottes nicht solche, die vorzeichnen, daß etwas auf eine bestimmte Weise geschehen wird, sondern solche, die bestimmen, daß eine Handlung des Menschen immer eine gewisse Konsequenz haben wird. Wenn der Mensch gut ist, dann erfährt er die Güte Gottes, ist er schlecht, erfährt er seine Strafe. Die Unveränderlichkeit Gottes verlangt nicht, daß er von Ewigkeit her die Menschen schon zu Sündern oder Gerechten vorherbestimmt hätte.


4. Freiheit, Gnade und Fortschritt – Hugos Theologie im Kontext

Hugo ist der Überzeugung, daß Gott alle Menschen zum Heil vorherbestimmt hat und keinen zur Sünde. Es gilt der Satz aus der Heiligen Schrift, daß Gott „will, daß alle Menschen gerettet werden.“ (1 Tim 2,4) Gott hat alle zum Heil vorherbestimmt, aber kein Mensch kann gegen seinen Willen das Heil erlangen. Gott läßt in seiner Gnade dem Menschen alle erdenkliche Hilfe zukommen, doch es liegt am Menschen, diese anzunehmen. Gott liebt jeden Menschen mit unaussprechlicher Liebe, doch es liegt an jedem einzelnen Menschen, sich von Gott lieben zu lassen. Gottes Liebe respektiert die Freiheit eines jeden Menschen. Die Theologen der Frühscholastik beschäftigten sich intensiv mit der Frage, ob der Wille aus sich oder nur mit Hilfe einer Gnade die ihm angebotene Gnade ergreifen kann, so daß aber dennoch die Freiheit des Menschen gewahrt wird. Eine andere Richtung dieser Fragestellung lautet, wie sich die Zusammenarbeit von Gnade und freiem Willen zum Guthandeln gestaltet. Anders gefragt könnte, dies heißen, wie der Fortschritt in der Seele, der nach Hugo die Liebe ist, möglich ist und welchen Anteil daran Gnade Gottes und Freiheit des Menschen haben. Dazu möchte ich die Gedanken Hugos von Rouen in einen weiteren Kontext mittelalterlicher Theologie einordnen.

a) Freiheit

Der Wille des Menschen ist frei. Diese Freiheit ist die Grundlage dafür, daß sich der Mensch entscheiden kann. Gott will, daß der Mensch sich mit Hilfe seines Verstandes in seiner Freiheit für das Gute entscheidet.
„Unter allem Vorhergesehenen aber ist zugleich die Möglichkeit des freien Willens, den Gott, wie er es vorhergesehen hat, sowohl dem Engel als auch dem Menschen gegeben hat. Deshalb läuft sowohl der Mensch als auch der Engel aufgrund der Möglichkeit des freien Willens unter allem, was geschaffen ist, frei, solange er die Möglichkeit des freien Willens gut unter Gott gebraucht. Indem er die ihm von diesem gewährte Freiheit bewahrt, wird er nicht von der Notwendigkeit gezwungen. Wer aber aus Nachlässigkeit vom Guten abweicht, wird aus eigener Schuld seiner Freiheit beraubt und bleibt als Sklave unter der Fessel der Schuld zurück.“ (III, 10, 1172)
Der Wille bleibt nur frei und wird von keiner Notwendigkeit gezwungen, wenn ihn der Mensch in rechter Weise gebraucht. Das tut er, wenn er sich gemäß dem Willen Gottes für das Gute entscheidet. Gebraucht der Mensch seine Freiheit nicht, wie Gott es will, zum Guten, sondern zum Bösen, so verliert er diese Freiheit und wird zu einem Sklaven, gefesselt durch Schuld und Sünde. Dies geschieht aus eigener Nachlässigkeit des Menschen. Da er nicht wirklich frei sein möchte, begibt er sich aus eigener Schuld in die Unfreiheit. „Denn es ist geschrieben: Jeder, der die Sünde tut, ist Sklave der Sünde (Joh 8,34). Diese elende Sklaverei läßt den Willen des Menschen nicht frei sein. Denn indem er der Sünde unterworfen wurde, hat er es eingebüßt, das gut zu sein.“ (V, 13, 1208) Durch den Sündenfall hat der Mensch im Paradies seine Freiheit verloren.
„Indem er sich durch die rückwärtsgewandte Liebe zu dem neigt, was geringer ist, wird bald die Gnade des Willens elend mißbraucht und durch die höchste Gerechtigkeit, der er nicht entfliehen kann, wird ihm nicht der Wille, wohl aber die Freiheit des Willens entzogen, so daß er nicht kann, was er vorher konnte, weil er wollte, was er nicht wollen sollte. Freilich weiß er durch den Verstand, daß er in Schuld gefallen ist und nicht frei ist zurückzukehren. Vom Guten konnte er freilich aus sich selbst abweichen, wenn es denn ein Können war. Denn es ist ein Abfall von dem was er gut konnte. Er konnte es aber mit der Gnade des Schöpfers. Indem er diese verschmähte, kam er herab zum nichtkönnen.“ (III, 3, 1167f.)
Der Mensch wollte, was er nicht wollen sollte. Er hätte dies nicht müssen, denn er hatte von Gott das Können dazu, im Guten zu bleiben. Der freie Wille ist ein Gnadengeschenk Gottes, durch das der Mensch mit Gottes Hilfe das Gute tun kann und der Mensch kann das Gute tun mit Hilfe der Gnade Gottes. Das „Können“ zum Bösen hatte er allein aus sich, doch ist die Möglichkeit, das Böse zu tun, für Hugo kein Können, es ist vielmehr ein Abfall von dem, was er eigentlich konnte. Durch diesen Abfall vom Guten wurde dem Menschen die Freiheit des Willens entzogen, wenngleich der Wille an sich bestehen bleibt. Der Mensch kann nun nicht mehr aus eigener Kraft zu dieser Freiheit des Willens zurückgelangen, die er am Anfang besessen hat und hat die Fähigkeit verloren, das Gute zu tun. Dies kann der Mensch nicht aus eigener Kraft wiedererlangen, sondern allein durch die Gnade der Erlösung in Jesus Christus. Hugo bekräftigt dies mit dem Schriftwort: Wenn der Sohn euch befreit, seid ihr wirklich frei (Joh 8,36). Diese Erlösung ist Gnade. Gott schenkt sie dem Menschen ungeschuldet ohne jegliches Verdienst.
Nach Hugo büßt der Mensch durch die Sünde die Freiheit des Willens ein. Für andere mittelalterliche Autoren bleibt durch die Sünde zwar die Freiheit bestehen, diese ist aber ohne die Gnade der Erlösung nicht mehr in der Lage, sich für das Gute zu entscheiden. Für Anselm von Canterbury kann zwar die Rechtheit des Willens verloren gehen, die Freiheit an sich bleibt jedoch bestehen. Die Rechtheit des Willens meint seine Hinwendung auf das Gute, auf Gott hin. Es gilt, daß diese Rechtheit des Willens „um ihrer selbst willen bewahrt wird. Kein Wille ist aber gerecht, es sei denn, er will, was Gott ihn wollen will.“ (De libertate arbitrii, S. 101) Die Rechtheit des Willens besteht darin, daß er im Einklang steht mit dem Willen Gottes. Verliert der Wille diese Rechtheit, vermag er das Gute nicht mehr zu tun. Die Freiheit des Willens bleibt zwar bestehen, aber sie kann nichts Gutes mehr bewirken. „Obschon sie sich der Sünde unterwarfen, waren sie doch nicht imstande, die natürliche Willensfreiheit in sich zu zerstören. Sie konnten aber bewirken, daß sie ohne eine andere Gnade als die, die sie zuvor besaßen, nicht mehr imstande waren, sich dieser Freiheit zu bedienen.“ (De libertate arbitrii, S. 74) Wie Hugo spricht auch Anselm hier von einer Gnade, die der Mensch vor dem Fall hatte. Diese Gnade, durch die der Mensch die Rechtheit des Willens bewahren konnte, geht mit dem Sündenfall verloren. Erst durch die Erlösung in Christus wird dem Menschen die Rechtheit des Willens wiederhergestellt und die Fähigkeit gegeben, mit der Gnadenhilfe Gottes sich in rechter Weise der Freiheit des Willens zu bedienen. Dazu entwirft Anselm ein Schema, das den Zusammenhang von Freiheit und Rechtheit des Willens darstellt.
„I. Es gibt einmal die Freiheit von sich her, die weder geschaffen noch von einem anderen empfangen ist. Diese hat Gott allein.
II. Zum anderen gibt es die von Gott geschaffene Freiheit, die empfangen wird, nämlich die der Engel und Menschen. Bei der geschaffenen und empfangenen Freiheit ist zu unterscheiden: eine, die die Rechtheit besitzt, die sie bewahren soll (II-1), und eine, die dieser ermangelt (II-2).
II-1. Im Besitz der Rechtheit kann die Freiheit diese einmal ablöslich (II-1-a), zum anderen unablöslich (II-1-b) festhalten.
II-1-a. Ablöslich war das Festhalten aller Engel, bevor die guten darin befestigt wurden und die bösen fielen, und ist das Festhalten aller Menschen vor dem Tode, die im Besitz der Rechtheit sind.
II-1-b. Unablöslich ist das Festhalten der auserwählten Engel und Menschen, der ersteren nach dem Sturz der verworfenen Engel, der letzteren nach ihrem Tode.
II-2. Die Freiheit kann der Rechtheit ermangeln, einmal wiederherstellbar (II-2-a), zum anderen unwiederbringlich (II-2-b).
II-2-a. Wiederherstellbar ist der Mangel der Rechtheit nur für alle Menschen, die in diesem Leben ihrer verlustig sind, mögen auch viele sie nicht wiedererlangen.
II-2-b. Unwiederbringlich ist der Mangel der Rechtheit für die verworfenen Engel und Menschen, der ersteren nach ihrem Sturz, der letzteren nach diesem Leben.“ (De libertate arbitrii, S. 116-119)
Gott allein besitzt aus sich die vollkommene, unverlierbare Freiheit, die nicht geschaffen ist, sondern zu seinem Wesen gehört. Engel und Mensch besitzen die Freiheit als eine von Gott geschaffene und empfangen diese von Gott. Ihre Freiheit besitzt die Rechtheit in unterschiedlicher Weise. Die Engel konnten vor dem Engelsturz diese Rechtheit verlieren, nach dem Engelsturz wurde die Rechtheit in den guten Engeln für immer gefestigt, und sie können sie nie mehr verlieren, die bösen können sie aber nie wiedererlangen. Die Menschen können die Rechtheit in diesem Leben verlieren, sie kann ihnen aber auch wiederhergestellt werden. Nach dem Tod wird in den Auserwählten die Rechtheit, wie bei den guten Engeln, für immer gefestigt, die Verworfenen aber können sie nicht wiedererlangen.
Anselm von Canterbury verbindet die Freiheit des Willens mit ihrer Rechtheit. Nur, wenn die Freiheit die Rechtheit besitzt, vermag sie das Gute gemäß dem Willen Gottes zu tun. Anselm von Laon unterscheidet zwischen drei Arten von Freiheit.
„Es gibt drei Freiheiten: Die eine ist die Freiheit von der Notwendigkeit, die uns von Natur aus in der Schöpfung zukommt, weil wir einen freien Willen haben; [...] die andere ist die Freiheit von der Sünde, [...] zu der wir durch die Gnade wiederhergestellt werden, die viel an Tugend besitzt, durch die wir das Fleisch unterwerfen; die andere ist die Freiheit vom Leid, [...] die viel an Freude hat und die in der Heimat uns bereitet ist und durch die wir den Tod unterwerfen.“ (Lottin 5, S. 87)
Die Freiheit von der Notwendigkeit besitzt der Mensch aufgrund seiner Natur. Sein Wille ist immer frei. Durch den Sündenfall hat der Mensch aber die Fähigkeit verloren, nicht zu sündigen. Mit der Erlösung wird ihm die Freiheit von der Sünde wiederhergestellt. Gnade ist diese Wiederherstellung der Freiheit von der Sünde und Gnade sind die Tugenden, durch die der Mensch das Fleisch unterwerfen und das Gute tun kann. Die Gnade der Erlösung, und die Gnade als erlöste Menschen zu leben, gehören zusammen. In dieser Welt wird der Mensch aber dennoch immer Leid erfahren. Erst für die künftige Welt erwartet den Menschen die Freiheit vom Leid.
Nach Bernhard von Clairvaux behält der Mensch die „Freiheit des Willens [...] stets unversehrt, sowohl nach der Sünde als auch vorher.“ (De gratia et libero arbitrio, VII.21.) Für ihn gibt es zwei Stufen der Freiheit. „Die höhere Freiheit des Rates besteht darin, nicht zu fähig sein zu sündigen; die niedrigere, fähig zu sein, nicht zu sündigen.“ (De gratia et libero arbitrio, VII.22.) Im Paradies besaß der Mensch die Freiheit, zu sündigen und nicht zu sündigen. „Dem Menschen allein unter den Lebewesen war es gegeben, daß er sündigen konnte: wegen des Vorzuges des freien Willens. Aber es war ihm gegeben, nicht, daß er sündige, sondern daß er herrlicher erscheine, wenn er nicht sündigte, obwohl er sündigen konnte.“ (De gratia et libero arbitrio, VII.22.) Das Besondere des Menschen besteht also nicht darin, daß er wegen seiner Freiheit die Möglichkeit hatte zu sündigen, sondern daß er gerade wegen dieser Möglichkeit dennoch dazu fähig war, nicht zu sündigen. Diese Ehre hat der Mensch durch den Sündenfall aufgegeben, und er konnte nun nicht mehr nicht sündigen. Damit ist zwar nicht der freie Wille an sich, wohl aber die freie Überlegung, durch die der Mensch vorher die Möglichkeit hatte, nicht zu sündigen, verlorengegangen. Was Anselm als Rechtheit des Willens bezeichnet, ist bei Bernhard vergleichbar mit der Freiheit des Rates, die sich für das Rechte entscheiden kann. Fehlt diese, kann der Wille das Gute nicht mehr tun. Aus diesem Zustand kann sich der Mensch nicht von sich aus befreien. Allein in Christus wird ihm die Wiederherstellung der freien Überlegung geschenkt, durch die es ihm nun wieder möglich ist, nicht zu sündigen. Der erlöste Mensch soll seine Überlegung dahingehend einsetzen, seine Fähigkeit, nicht zu sündigen, zu gebrauchen. Im Himmel werden die beiden Freiheiten vollkommen erneuert sein, und der Mensch wird dann auf ewig nicht fähig sein, zu sündigen und ewig fähig sein, nicht zu sündigen.
„Gewiß aber soll jene Vollkommenheit im künftigen Leben erwartet werden, wenn beide verlorenen Freiheiten für den freien Willen vollkommen erneuert sein werden [...]. Inzwischen müssen wir hier von der Freiheit der Überlegung lernen, die Freiheit des Willens nicht mehr zu mißbrauchen, damit wir einmal vollkommen die Freiheit des Wohlgefallens genießen können [...], so werden wir durch die Gnade bereit, jene alte Ehre wiederzuerlangen, die wir durch die Sünde verloren haben.“ (De gratia et libero arbitrio, VIII, 26f.)
Letztlich ist es die Gnade Gottes, die dem Menschen das wiedergibt, was er aus eigener Schuld verloren hat. Für Hugo von St. Viktor gibt es drei Zustände des Menschen, die sich jeweils durch die Beschaffenheit der Freiheit des Willens voneinander unterscheiden.
„Es ist vollkommen unstrittig, daß der Mensch vor der Sünde den freien Willen hatte, und mit dieser gesunden Freiheit das Streben seines Willens entweder zum Guten oder zum Bösen hinneigen konnte. Zum Guten freilich mit Hilfe der Gnade, zum Bösen aber allein von Gott zugelassen, aber nicht gezwungen. Die erste Freiheit des Willens bestand darin, sündigen zu können und nicht sündigen zu können. [...] Die mittlere Freiheit nach der Sünde, aber vor der Wiederherstellung hatte nicht die Gnade zum Guten sondern die Schwachheit im Bösen und daher besteht sie darin, sündigen zu können und nicht sündigen nicht zu können. [...] Die mittlere Freiheit nach der Wiederherstellung, aber vor der Festigung, hat die Gnade zum Guten und die Schwachheit zum Bösen, [...] sie besteht darin, sündigen zu können, wegen der Freiheit und der Schwachheit, und zu vermögen, nicht zu sündigen, wegen der Freiheit und der helfenden Gnade. [...] Wenn aber die Schwachheit ganz aus der Mitte weggenommen sein wird und die stärkende Gnade vollendet sein wird, dann wird sie darin bestehen, nicht sündigen zu können.“ (De sacramentis, I, VI, XVI, PL 176, 272f.)
Für Hugo von St. Viktor besitzt der Mensch in jedem Zustand die Freiheit. Vor dem Sündenfall, als die Freiheit noch unversehrt war, konnte der Mensch das Streben seines Willens zum Guten oder zum Bösen hinlenken, zum Bösen aus eigener Nachlässigkeit, zum Guten mit Hilfe der Gnade Gottes. Somit schreibt auch Hugo von St. Viktor dem Menschen im Paradies die Gnade zu, mit der er das Gute zu wirken konnte. Auch er bezeichnet wie Bernhard die Freiheit im Paradies als eine solche, die sündigen konnte, aber auch dazu fähig war, nicht zu sündigen. Die Freiheit, nicht sündigen zu können, ging durch den Sündenfall verloren, der Mensch hatte nicht mehr die Gnade zum Guten, sondern nur die Schwachheit zum Bösen. Er konnte sündigen, aber nicht nicht sündigen. Durch die Erlösung steht der Mensch weiterhin unter der Schwachheit zum Bösen, hat nun aber durch die helfende Gnade die Möglichkeit, das Gute zu tun. Er kann sündigen und nicht sündigen. Dereinst aber wird Gott dem Menschen die Schwachheit nehmen, und er wird nicht mehr sündigen können. Dies wird im Zustand der Auferstehung sein, wenn der Mensch vollkommen von der Sünde und der Sündenstrafe befreit sein wird. Dann wird allein die Liebe sein. (Vgl. De sacramentis, I, VI, X, PL 176, 270)
Es ist die gemeinsame Überzeugung dieser Autoren, daß der Mensch durch den Sündenfall die Möglichkeit verloren hat, aus eigener Kraft das Gute zu tun. Erst die Erlösung durch Christus macht es dem Menschen möglich, seine Freiheit in rechter Weise zu gebrauchen. Dies ist nur durch die Gnade möglich. „Die frühscholastische Lehre von der Gnade des Urzustandes ist aufgebaut auf der Lehre von zwei posse, vom posse stare und vom posse proficere.“ (Landgraf I/1, S. 114) Beide verliert der Mensch durch den Sündenfall, und er kann nun nicht mehr nicht sündigen. Die „Unmöglichkeit jeglicher guten Handlung nach dem Sündenfall“ (Landgraf I/1, S. 104f.) ist eine weitverbreitete, wenn auch nicht unumstrittene Lehrmeinung zur Zeit Hugos von Rouen. In Christus werden die beiden posse „wiederhergestellt, das posse stare durch das posse non peccare, und dies wird bedingt durch eine Gnade, die zugleich das Verdienen, d.i. das posse proficere gibt.“ (Landgraf I/1, S. 114) Erst durch die Gnade erlangt der Mensch die Möglichkeit wieder, Gutes zu tun. Es fällt „die Gnade, welche die Rechtheit des Willens gibt, mit derjenigen Gnade zusammen, die zum Verdienst notwendig ist. [...] Wir sehen [...], daß die Störung der Natur des Willens und des Verstandes durch zwei gnadenhafte habitus, welche ihnen die Rechtheit wiedergeben, behoben werden. Solche habitus sind denn nur Glaube und Liebe. Durch sie wird auch die Rechtheit, die vor dem Fall natürlich war, nach der Restauration zu einer gnadenhaften.“ (Landgraf I/1, S. 129f.) Die Frage, ob der Mensch schon im Paradies Verdienste erwerben konnte oder erst durch die Gnade, die mit der Erlösung verbunden ist, wird uns im weiteren noch beschäftigen. Zunächst muß aber der Zusammenhang von Gnade und Verdienst näher untersucht werden.

b) Gnade und Verdienst

Ohne Gnade vermag der Mensch nichts Gutes zu tun. Das Verdienst des Menschen besteht darin, „daß man freiwillig und nicht gezwungen mit der Gnade das wirkt, was gut ist.“ (Landgraf I/1, S. 124f.) Dennoch war dieses Ineinander von Gnade und Freiheit ein Problem, das zur Zeit Hugos noch nicht gelöst war. „Man stand eben zwischen Szylla und Charybdis. Auf der einen Seite wurde das Verdienst als Gnade bezeichnet, auf der anderen Seite forderte man dafür die freie Betätigung des Menschen.“ (Landgraf I/1, S. 183) Es gab verschiedene Versuche, beides in Einklang zu bringen. Man kam zu der Überzeugung, daß, wenn „auch sowohl die Gnade als auch das liberum arbitrium zum Guten bewegen, so doch das liberum arbitrium nur unter dem Einfluß der Gnade.“ (Landgraf I/1, S. 126) Aus Furcht vor dem Pelagianismus neigte man eher dazu, das menschliche Vermögen abzuwerten, was zu einer Zurückdrängung der Bedeutung des menschlichen Verdienstes führte. Es würde zur semipelagianischen Irrlehre führen, nähme man an, daß der Mensch nach anfänglicher Gnadenhilfe Gottes später selbst seine eigenen Verdienste schüfe. Große Bedeutung erlangte der von Augustinus stammende Satz: „So groß ist die Güte Gottes gegenüber den Menschen, daß er möchte, daß es unsere Verdienste seien, was seine Geschenke sind.“ (Landgraf I/1, S. 184)
Ich möchte versuchen, die Position Hugos in diesem Streit herauszuarbeiten. Für Hugo ist es eine Gnade, daß Gott dem Menschen die Vernunft und den freien Willen geschenkt hat. Ihr rechter Gebrauch dient dem Erwerb weiterer Gnaden. Hugo spricht von der „Gnade des Willens“. Gott hat in „seiner unaussprechlichen Liebe dem Engel und dem Menschen den freien Willen geschenkt, durch den jeder von beiden aus Gnade das erlangen kann, was er nicht von Natur aus empfangen hat.“ (III, 3, 1167) Gott hat die Menschen vernunftbegabt geschaffen. Sie allein von allem können in rechter Weise wissen, wahrhaft urteilen, vollkommen lieben, damit sie, über sich selbst erhoben, zu Gott aufsteigen. Der rechte Gebrauch der Vernunft, die Gott den Menschen geschenkt hat, gibt ihnen die Möglichkeit zum Guten. Der Mensch aber kann das Gute nicht tun ohne die Hilfe Gottes. Der Mensch soll um diese Hilfe bitten, und Gott schenkt sie allen, die sie annehmen möchten. Diese Hilfe Gottes zeigt sich in besonderer Weise im Heiligen Geist. „Ohne ihn ist alles, was auch immer der Mensch tut, böse.“ (VII, 2, 1235) Der Mensch soll vor jedem Werk um diese Gabe des Heiligen Geistes beten, der die rechte Liebe schenkt.
Gott hat dem Menschen alles gegeben, was er zum Heil braucht, und gibt es dem Menschen immer neu. Es liegt am Menschen, diese Hilfe Gottes anzunehmen und sich für das Gute zu entscheiden. Es gilt der Satz aus der Heiligen Schrift, daß Gott „will, daß alle Menschen gerettet werden. (1 Tim 2,4) [...] Es kann aber keiner gerettet werden, wenn er selbst es nicht will.“ (III, 13-14, 1175) Der Mensch hat „den freien Willen von seinem Schöpfer empfangen, und mit ihm sollte er den selbst über alles lieben, der ihm seine Gesetze mitgeteilt hat. Ihm hat der Herr die Vorschriften gegeben, von denen er beschlossen hat, daß er sie aufgrund seines Verstandes, durch den er hervorragt, befolgen soll. Indem er sich entscheidet, sollte er sie halten, und frei konnte er dies, indem ihm der half, der sie gab und von dem er das Sein und Können hatte.“ (III, 13, 1174)
Gott hat dem Menschen seine Vorschriften und Gesetze gegeben und mahnt ihn dazu, seinen Verstand in rechter Weise einzusetzen und zu erkennen, daß in ihrer Befolgung das Heil liegt. Es zeichnet die vernunftbegabte Kreatur aus, daß sie durch den rechten Gebrauch dieser von Gott gegebenen Vernunft das Gute tun kann. Der Mensch kann sich frei dazu entscheiden, und dennoch kann er es nur mit Gottes Hilfe. Daß es ein Zutun des Menschen gibt, läßt sich daran erkennen, daß Gott durch seine Gebote mahnt und daß es rechtens ist, wenn er die Irrenden bestraft.
Es scheint fast so, als hinge Hugo hier einer Lehre an, die in den Capitula haeresum Abaelardi zensuriert wurde. „Abaelard soll wörtlich gesagt haben: Wenn dem wirklich so ist, daß der Mensch aus sich nichts Gutes wirken kann, so daß er sich zur Entgegennahme der göttlichen Gnade durch den freien Willen ohne Gnadenhilfe nicht aufzurichten vermöchte, dann erscheint kein Grund, warum er, sobald er sündigt, bestraft würde. [... Es] sei also gesagt, daß der Mensch durch die von Gott gegebene Vernunft der beigegebenen Gnade anzuhängen vermag.“ (Landgraf I/1, S. 69f.) Auch Hugo betont die Fähigkeit der menschlichen Vernunft und schließt aus der Mahnung Gottes auf ein freies Zutun des Menschen.
Für Abaelard ist es in besonderer Weise die Intention, aus der heraus eine Handlung erfolgt, die diese gut oder schlecht sein läßt. Die richtige Intention ist dann vorhanden, wenn etwas direkt um seiner selbst willen gewollt wird. Dies kann nur dann geschehen, wenn sich das Wollen im letzten auf das wahrhaft höchste Gut richtet, und das ist allein Gott. Das Tun der Liebe kann folglich nur ausgehend von der Erkenntnis geschehen, daß Gott und sein Gebot gut sind. Diese Erkenntnis geschieht durch den Verstand. Liebe ist also immer auch vernünftig, und wahre Liebe ist frei von Furcht. Die wahre Erkenntnis Gottes kann der Mensch jedoch nicht allein aus sich heraus erwerben. Wahre Erkenntnis und Liebe sind ein Geschenk der Gnade Gottes. Auch für Abaelard war nach dem Sündenfall die Vernunft des Menschen nicht mehr in der Lage, Gott zu erkennen und zu lieben. Wenn aber der Mensch die Gnade der Erlösung durch Christus annimmt, wird er wieder fähig, sittlich gut zu handeln. Es bleibt unklar, wieviel Abaelard der Vernunft des Menschen vor dem Sündenfall und nach der Erlösung zutraut. Wenn er auch immer wieder betont, daß die Gnade Gottes dem guten Handeln des Menschen vorausgeht, so hat er wohl doch die Fähigkeit des Menschen zum guten Tun zu einseitig formuliert, was ihm auf der Synode von Sens eine Verurteilung als pelagianisch eingebracht hat.
Fest steht, daß die Annahme des Erlösungsgeschenkes von Gott das Wirken der Gnade ist. Das ist es, was der Mensch gänzlich unverdient von Gott geschenkt bekommt. Wie aber das darüber hinausgehende Zueinander von Gnade und Verdienst zu definieren ist, darüber gab es heftige Auseinandersetzungnen. Aus einem Vergleich der Auslegung des Satzes aus dem Römerbrief (Röm 9,16) - „So kommt es nicht auf das Wollen oder Vollbringen des Menschen an, sondern allein auf das Erbarmen Gottes“ - läßt sich ersehen, wie Hugo von Rouen mit seiner Meinung von Augustinus abweicht. Augustinus erkennt im Enchiridion den Gegensatz, der zwischen der Bedeutung des Wollens des Menschen und des Erbarmens Gottes besteht. So muß sich der Mensch in seinem Willen frei entscheiden, das Rechte zu tun. Letztendlich ist es aber doch Gott, der den Willen des Menschen daraufhin zubereitet. Es kann also nicht so sein, daß beide gleichermaßen zusammenwirken. Wenn nämlich der Wille des Menschen ohne die Barmherzigkeit Gottes nicht ausreichen würde, allein das Gute hervorzubringen, so würde daraus folgen, daß andererseits auch die Barmherzigkeit Gottes ohne den Willen des Menschen zum Vollbringen des Guten nicht ausreichen würde. Dies würde aber der Stelle aus dem Römerbrief widersprechen, nach der alles dem Erbarmen Gottes zukommt. „So bleibt also als rechtes Verständnis der angeführten Stelle [...] nur die Auffassung übrig, die Gott alles gibt. Er ist es, der den guten Willen des Menschen zubereitet, um ihm zu helfen, und er hilft ihm, nachdem er ihn zubereitet hat.“ (Enchiridion, 32)
Hugo vertritt dazu eine andere Meinung. Nach dem obigen Zitat aus dem Römerbrief fragt der Dialogpartner, ob denn daraus folge, daß die Freiheit des Willens nichts und der Wille Gottes alles bedeute. Dies verneint Hugo aufs heftigste. Warum würde dann Gott mit seinen Worten mahnen, befehlen, verbieten und dergleichen? Wenn alles vom Willen Gottes abhinge, warum würde dann der, der Unrecht tut, bestraft? Die Stelle aus dem Römerbrief, nach der es allein auf die Gnade Gottes ankommt, deutet Hugo nicht auf die freie Entscheidung des Menschen, sondern auf die Annahme der Erlösung in der Taufe, durch die der Mensch erst wieder die Möglichkeit zu einer solchen freien Entscheidung hat. Es ist allein Gottes Gnade, daß er die Gefallenen aufrichtet und ihnen die durch die Sünde verlorene Freiheit wiederherstellt. Diese Erlösung kommt dem Menschen ganz ohne eigenes Verdienst zu. Somit bezieht sich das Zitat aus dem Römerbrief auf die Notwendigkeit der Erlösung, die aufgrund des Sündenfalls entstanden ist. Einmal gefallen, können die Menschen nur durch das Erbarmen Gottes errettet werden. Als Erlöste aber sind die Menschen aufgefordert, die Gebote Gottes nach ihren Kräften zu erfüllen. Somit gibt Hugo nicht, wie wir es bei Augustinus lesen, Gott alles. Der Mensch ist sehr wohl aufgefordert, das Seine zu tun. Dennoch bleibt auch für Hugo dieses Ineinander von Verdienst und Gnade letztlich unergründlich, und er ruft mit Paulus den Satz aus dem Römerbrief (11,33) aus: „O Tiefe des Reichtums der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Urteile, wie unerforschlich seine Wege!“
Ebenso wie Hugo versucht auch Bernhard von Clairvaux eine Synthese zwischen freiem Willen und Gnade herzustellen.
„Was vollbringt aber dann der freie Wille?, fragst du. Ich antworte kurz: Er wird gerettet. Nimm den freien Willen weg, es gibt nichts mehr, was gerettet werden kann. Nimm die Gnade weg, es gibt nichts mehr, wodurch gerettet wird. Dieses Werk kann ohne die beiden nicht zustandekommen, nicht ohne das eine, durch das es geschieht, nicht ohne das andere, für das oder in dem es geschieht. Gott ist der Urheber des Heils, der freie Wille ist nur geeignet, es zu empfangen. Nur Gott kann es geben, nur der freie Wille kann es empfangen. Was also von Gott allein und allein dem freien Willen gegeben wird, kann weder ohne Zustimmung des Empfangenden sein, noch ohne die Gnade des Gebenden. Daher sagen wir, daß der freie Wille mit der Gnade, die das Heil wirkt, zusammenwirkt, insofern er zustimmt, das heißt, insofern er gerettet wird. Die Zustimmung bedeutet nämlich Rettung.“ (De gratia et libero arbitrio, I, 2, S. 174-177)
Für Bernhard ist der freie Wille des Menschen fähig, die Gnade Gottes anzunehmen. So kann er am Heil des Menschen mitwirken, das Gott allein in seiner Gnade schenkt. Bernhard stellt nicht die Frage nach einer weiteren Gnade, die diese Annahme der Gnade erst möglich machen würde, sondern gesteht dem freien Willen aus sich die Möglichkeit der Annahme zu. Für ihn geht es nicht, wie bei Augustinus, darum, Freiheit und Gnade gegeneinander auszuspielen, sondern nur weil beide Zusammenwirken, kann es beide geben. Die Gnade wäre ohne die Freiheit nicht Gnade, ohne die Gnade vermag aber die Freiheit aus sich heraus nichts. Bernhard ist hier mit seinem Denken nahe an Hugo, der ja auch die Freiheit des Willens hervorhebt, zugleich aber die Notwendigkeit der Gnade bedeutet.
Für Anselm von Canterbury wird durch die Gnade der Erlösung, die die Taufe bewirkt, die Rechtheit des Willens wiederhergestellt. Was das Zusammenwirken von Gnade und Freiheit angeht, möchte Anselm sowohl die Position des sola gratia als auch des solo libero arbitrio vermeiden. Anselm möchte zeigen, daß der freie Wille zugleich mit der Gnade besteht und daß der freie Wille mit der Gnade zusammenwirkt. Dennoch kann der freie Wille nichts Gutes tun, wenn Gott es nicht durch seine Gnade bewirkt. Obwohl der Mensch „seinen Willen kraftvoll gebraucht, macht er dennoch nichts, was Gott nicht mit den Gütern seiner Gnade wirkt.“ (De concordia 2,3) Er bringt das Beispiel von einem nackten Mann, dem einer, der ihm nichts schuldet, Kleider gibt. Es liegt aber an dem Nackten, ob er sie animmt und anzieht. Dennoch hängt alles vom Geber der Kleider ab, denn wenn dieser sie nicht schenken würde, hätte der Nackte nichts. Anselm schätzt die Möglichkeit des freien Willens sehr hoch ein, denn er hat die Möglichkeit, sich zu entscheiden. Dennoch hätte er nichts, wofür er sich entscheiden könnte, wenn Gott nicht seine Gnade schenken würde.
Für Anselm von Laon ist es schon eine Gnade, daß der Mensch sich für das Gute entscheidet. Gnade besteht für ihn darin, daß sie keinen Menschen zwingt, aber denen hilft, die das Gute tun wollen und diesen auch die Kraft gibt, im Guten standzuhalten. Gnade wird jedem angeboten, aber sie zwingt keinen. Dennoch ist es ein Werk der Gnade, daß der Mensch die Gnadenhilfe annimmt. „Denn die allen angebotene Gnade verursacht keine Notwendigkeit, sondern hilft dem Wollenden; und so steht fest, daß auch diese Zustimmung aus Gnade geschieht, nämlich dadurch, weil jener nicht zugestimmt hätte, wenn ihm nicht die Gnade geholfen und ihn gerufen hätte.“ (Lottin 5, S. 94)
Nach Hugo von St. Viktor gibt es zwei Güter für den Menschen, ein körperliches, das der Mensch schon umsonst empfangen hat, und ein geistiges, das der Mensch durch Verdienst anstreben soll. Die Notwendigkeit des Verdienstes zeigt die Größe dieses geistigen Gutes an.
„Nicht deshalb verlangt Gott den Dienst des Menschen, weil der allmächtige Schöpfer des Dienstes des von ihm geschaffenen Menschen bedürfte, sondern daß der Mensch selbst die wahren Güter, indem er sie durch Verdienst erlangt, um so herrlicher besitze. Und deshalb war es für die höchste Güte mehr, sowohl den Verdienst als auch das Geschenk zu geben, als ohne Verdienst nur das Geschenk.“ (De sacramentis, I, VI, VI, PL 176, 267)
Der Mensch strebt danach, dieses geistige Gut zu erlangen, und es macht gerade die besondere Würde des Menschen aus, daß „ihr kein Gut, außer das Höchste, genügt. Und andererseits ist die Freiheit groß, weil sie manchmal nach ihrem Willen aufgegeben wird, damit sie zu jenem höchsten Gut nicht gedrängt werden kann. Sie kann ja nur durch den Willen zu dem gelangen, was allein in der Liebe besessen werden darf.“ (De Sacramentis, I, VI, VI, PL 176, 268) Es macht also gerade die Größe des Geschenkes aus, daß der Mensch es sich verdienen muß. Der Mensch hat die Freiheit, und damit kann er sich auch gegen dieses von Gott angebotene Gut entscheiden. So besteht die Größe der Freiheit darin, daß sie aufgegeben werden kann. Gott drängt dem Menschen seine Güter nicht auf, sie können nur in Freiheit erlangt werden. Strebt der Mensch sie an, so schenkt sie Gott in seiner Gnade.
Die Frage nach dem Zusammenhang von Gnade und Verdienst bleibt ungeklärt. Alles ist Gottes Geschenk, doch der Mensch hat die Freiheit, es anzunehmen oder abzulehnen. Aber kann er es annehmen ohne die Hilfe der Gnade Gottes? Der Mensch strebt nach dem Guten, aber er kann das Gute nur tun, wenn Gott ihm dabei hilft. Gott schenkt dem Bittenden seine Hilfe. Doch ist es nicht auch schon Gnade, daß der Mensch bittet und dann die Hilfe annimmt? Es gibt in der Tat Vertreter einer Lehre, die dieses Zueinander von Gnadenhilfe und Annahme der Gnade ad infinitum betreiben, doch ein solches Konzept schreibt dann doch letzten Endes alles der Gnade zu und läßt keinen Raum für ein Verdienst, weil jeder Entscheidung des Menschen eine Gnade vorausgeht. Eine Lösung dieser Frage wäre, daß Gott allen die Gnade schenkt, dem Willen Gottes zuzustimmen, aber es doch in der Freiheit des Menschen liegt, dieser Gnade zuzustimmen. Dies wäre auch für Hugo von Rouen ein gangbarer Weg, denn er sagt ja auch, daß der Mensch von Gott das Können zum Guten hat. Die Entscheidung für das Gute liegt in der Verantwortung des Menschen, der von Gott die Gnade des Willens und die Freiheit bekam. Die Gnade des Könnens liegt für Hugo im freien Willen, der im rechten Zusammenwirken mit dem Verstand sich für das Gute entscheiden kann. Indem er diese Entscheidung für das Gute vor Gott trägt, erhält er von ihm auch die Kraft, dieses Gute zu vollbringen.

c) Fortschritt

Es stellt sich nun die Frage, ob der Mensch von Anfang an von Gott dazu geschaffen wurde, Verdienste zu erlangen, oder ob ihm dies erst nach der Erlösung möglich ist. Fällt „die Gnade, welche die Rechtheit des Willens gibt, mit derjenigen Gnade zusammen, die zum Verdienst notwendig ist,“ (Landgraf I/1, S. 129f.) oder konnte der Mensch schon mit der Gnade im Urstand, die verschiedene Autoren dem Menschen zugestehen, Verdienste erwerben? Zur Zeit Hugos ist unter anderem die Lehre verbreitet, daß Adam im Urstand im Paradies, da er die Gnade dazu nicht besaß, keine Möglichkeit hatte, Verdienste zu erwerben, er besaß „wohl das stare, nicht aber das proficere.“ (Landgraf I/1, S. 152 und S. 187) Diese Aussage hat größtenteils ihren Grund darin, daß Anfang des 12. Jahrhunderts die Lehre von einem übernatürlichen Verdienst des Menschen noch nicht ausformuliert war und man die Verdienstmöglichkeit allein im Innerweltlichen sah. Petrus Lombardus ist ein Vertreter dieser Lehre. Er verneint, daß „der Mensch mit der bloßen Schöpfungsgnade ohne jede andere Gnade Fortschritte machen [konnte] zum ewigen Leben.“ (Schupp, S. 65) Er begründet dies damit, daß der Mensch vor dem Sündenfall keine inneren Schwierigkeiten zu überwinden hatte und der Widerstand gegen das von außen kommende Böse kein Verdienst darstelle. So könne Adam im Paradies, obwohl er die caritas besitzt, keinerlei Fortschritte machen, eine, wie ich meine, für Hugo von Rouen undenkbare Aussage.
Hugo bezeichnet ja gerade die Liebe als Fortschritt der Seele, die zuerst Gott und in Gott alles liebt. Ich habe bei der Erläuterung dieser Stelle darauf hingewiesen, daß dieser Fortschritt in der Liebe sich nicht auf ein rein innerweltliches Ziel richtet. Der Mensch will dadurch nicht allein seine Natur vervollkommnen, sondern erstrebt die Güter der Ewigkeit und Glückseligkeit, die ihm nicht von Natur aus zukommen, sondern die Gott als Geschenk geben wird. Zwar verwendet Hugo das Wort supernaturale nicht, aber Landgraf hat erkannt, daß Hugo schon das damit Gemeinte anklingen läßt. Das wird unter anderem an folgender Aussage Hugos deutlich:
„Es ist das eine, von Gott als ein vollkommenes Geschöpf in der Natur und vollkommen nach Art der guten Schöpfung gemacht zu sein, das andere, schon in der vollkommenen Natur bestehend, über sich erhoben zu werden durch die Liebe, und durch das Verdienst der Liebe in den, der der Höchste ist, vollendet zu werden in der Glückseligkeit nach Art der Gnade.“ (IV, 6, 1184)
Das stare allein genügt nach Hugo eben nicht für den Menschen. Gott wollte, daß er sich ein über seine Natur hinausgehendes Gut verdient, nämlich die Glückseligkeit. Es ist dem Menschen nicht genug, sich allein innerweltliche Güter zu verdienen. Für innerweltliches Verdienst bedarf er nicht der Gnade, sondern dieses Können hat der Mensch von Natur aus von Gott, und es bleibt ihm auch nach dem Sündenfall. Das Erlangen dieser irdischen Güter steht auch nicht in Zusammenhang mit der Liebe, sondern nur mit der Vernunft. Die Liebe strebt nach Höherem, sie hat ihren Ursprung und ihr Ziel bei Gott. Der Mensch ist aber durch seine Seele mit Gott verbunden und strebt nach dem höchsten Gut. Die Erfüllung dieses Strebens findet er nur in Gott. Weil der Mensch dieses Gut aus sich nicht erlangen kann, ist es ganz Geschenk Gottes. Dennoch kommt auch hier wieder das letzlich ungeklärte Ineinander von Liebe und Verdienst zur Geltung, nach dem der Mensch sich durch die Liebe das verdienen soll, was allein die Gnade schenkt.
Es „zeigt sich die Spekulation über das Übernatürliche des Verdienstes innigst mit der Caritasfrage verknüpft.“ (Landgraf I/1, S. 190) So stellt auch nach „der Lehre der Schule Hugos von St. Viktor [...] die caritas ein Streben auf den Besitz Gottes hin dar. Es kann nur das um seiner selbst willen geliebt werden, was Gegenstand der fruitio ist, auf welche die Liebe wie ein Gewicht hindrängt.“ (Landgraf I/1, S. 190) Dadurch, daß die Liebe des Menschen allein auf Gott hin ausgerichtet ist und die Liebe zum Nächsten im letzten auch wieder Gottesliebe ist, weil im Nächsten das Gute, das dieser von Gott hat, geliebt wird, strebt sie nichts Natürliches an, und somit kann ihr Verdienst auch kein natürliches sein.
Es kam dazu, daß „die caritas als Weg zum ewigen Ziel bezeichnet wurde. Die Spekulation macht sich diesen Vergleich begierig zunutze und spricht von einem moveri und proficisci, von Schritten der Liebe, die zum Schöpfer eilen.“ (Landgraf I/1, S. 191) Dafür kann Landgraf aber als Beispiel nur das einschlägige Zitat von Hugo von Rouen anführen. Dies bestätigt meine Ansicht, daß Hugos Definition der Liebe als Fortschritt der Seele eine einmalige Formulierung darstellt. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich noch einige Stellen anderer Autoren untersuchen, bei denen der Gedanke des Fortschritts ausgedrückt wird.
An und für sich ist der Gedanke von Fortschritt und Rückschritt im Glauben und in der Liebe in der Theologie vertraut. Auf die Jakobsleiter und die Stufen der Demut in der Regel des heiligen Benedikt wurde bereits hingewiesen. Im Prolog der Regel heißt es: „Wer aber im klösterlichen Leben und im Gehorsam voranschreitet, dem wird das Herz weit, und er läuft im unsagbaren Glück der Liebe den Weg der Gebote Gottes.“ (Regula Benedicti, Prolog) Je mehr der Mönch seinen Willen dem Willen Gottes angleicht, indem er die Regel einhält, in der für ihn der Wille Gottes deutlich wird, desto größer wird die Liebe, und dieses Voranschreiten in der Liebe mehrt auch die Freude. Bei Bernhard von Clairvaux finden wir das Begriffspaar profectus und defectus. (Vgl. De gratia et libero arbitrio, VI.16., S. 199, Anmerkung 102: profectus und defectus, ein schwer übersetzbares Wortspiel. Bei Leclercq, J. (Bernhard von Clairvaux, Die Botschaft der Freude, Einsiedeln 1953) wird es mit „Fortschritt“ und „Rückschritt“ wiedergegeben.) So heißt es in seinem Traktat De gratia et libero arbitrio:
„Zu wollen liegt freilich in unserer Macht aufgrund des freien Willens, nicht aber auch zu können, was wir wollen. Ich sage nicht ‚Gutes zu wollen’ oder ‚Böses zu wollen’. Gutes zu wollen ist ein Fortschritt, Böses zu wollen aber ein Mangel. Wollen aber, einfach für sich genommen, ist gerade das, was voranschreitet oder einen Mangel erleidet. Daß es das Wollen selbst gibt, bewirkte die erschaffende Gnade; daß es Mangel erleidet, ist eigene Schuld. So bewirkt der freie Wille, daß wir wollen; die Gnade, daß wir Gutes wollen. [...] Denn so ist es auch eines, einfach zu fürchten, etwas anderes, Gott zu fürchten; zu lieben, und Gott zu lieben. Denn Furcht und Liebe bezeichnen Gefühle. Mit einem Zusatz aber bezeichnen sie Tugenden. So ist es auch eines zu wollen, etwas anderes, das Gute zu wollen.“ (De gratia et libero arbitrio, VI.16.)
Für Bernhard stehen die Worte profectus und defectus in Zusammenhang mit dem freien Willen. Wollen kann der Mensch immer, das gehört zu seiner Natur. Aber er vermag nicht immer auszuführen, was er will. Gutes zu wollen, vermag der Mensch allein aufgrund der Gnade. Das Gute zu wollen, ist Fortschritt. Dieser ist allein durch die Gnade möglich. Den Rückschritt aber, Böses zu wollen, vermag der Mensch aus sich. Fortschritt und Rückschritt haben bei Bernhard keinen direkten Bezug zur Liebe. Dennoch kommt er wenige Zeilen später auf die Liebe zu sprechen. So, wie das Wollen an sich unbestimmt ist, so ist es auch die Liebe. Erst wenn die Liebe auf Gott gerichtet ist, ist sie eine Tugend, und ebenso ist das Wollen erst dann ein Fortschritt, wenn es auf das Gute hin gerichtet ist. Indirekt vergleicht Bernhard somit hier Gutes wollen mit der Liebe zu Gott. Dies ist ein Fortschritt. Für Bernhard aber ist dieser Fortschritt allein durch die Gnade möglich. Somit betont Bernhard hier mehr als Hugo die Gnade.
Dies wird auch an einer anderen Stelle aus dem Sermo super Cantica deutlich, wo Bernhard ebenfalls das Wort profectus verwendet.
„Es gibt also diese drei Regungen oder Fortschritte in der Seele, [...] die Vergebung der bösen Taten, die Gnade um Gutes zu tun und die Gegenwart des Gebers und Wohltäters selbst.“ (Sermo super Cantica 4,1)
Diese Stelle kommt dem Denken Hugos nahe. An erster Stelle steht die Vergebung der Sünden, die der Mensch durch die Taufe empfängt. Diese Wiederherstellung macht es dem Menschen erst wieder möglich, das Gute zu tun. Dies kann der Mensch, wie Bernhard betont, nur durch die Gnade. Am Ende wird Gott selbst dem Menschen seine Gegenwart schenken, wenn ihn der Mensch in der Ewigkeit sehen darf, wie er ist. Durch die Gnade kann der erlöste Mensch Gutes tun. Wenn hier auch nicht direkt die Liebe genannt wird, so wird man doch das Tun des Guten nirgends anders als in der Liebe sehen. Auch bei Bernhard wird der Fortschritt mit der endgültigen Schau Gottes in Zusammenhang gebracht.
Augustinus fordert den erlösten Menschen, der noch in der Spannung steht zwischen sündigen können und nicht sündigen können, dazu auf, die Gottessohnschaft in sich immer mehr auszuprägen. „Schreiten wir daher voran in der Erneuerung und im gerechten Leben, wodurch wir Söhne Gottes sind, und wodurch wir gänzlich nicht sündigen können, solange bis alles dazu verwandelt wird, auch jenes, daß wir noch Söhne dieser Welt sind; denn dadurch können wir noch sündigen.“ (Augustinus, De natura et gratia, 2, 8, 10)
Eine große Ähnlichkeit mit Hugos Definition der Liebe als Fortschritt der Seele weist ein Abschnitt aus dem dritten Buch von Augustins De Doctrina Christiana auf. Dort heißt es:
„Ich nenne die Liebe einen Antrieb des Geistes, Gott um seiner selbst willen und sich und den Nächsten um Gottes willen zu genießen. Die Begierde aber nenne ich einen Antrieb des Geistes, sich selbst, den Nächsten und einen beliebigen Körper nicht um Gottes willen zu genießen. Was aber die ungezähmte Begierde betreibt, um den Geist und seinen Körper zu verderben, wird Schandtat genannt; was sie aber betreibt, um einem anderen zu schaden, wird Verbrechen genannt. Diese beiden Arten von Vergehen umfassen alle Sünden, aber die Schandtaten werden zuerst begangen. [...] Ebenso ist das, was die Liebe zu ihrem eigenen Nutzen betreibt, Eigennutz. Was sie aber betreibt, um dem Nächsten zu nützen, wird Wohltat genannt. [...] Je mehr aber die Herrschaft der Begierde zerstört wird, um so mehr wird die Liebe vermehrt.“ (Doctrina Christiana 3, 16, CCL 32, 87)
Stellt man die beiden Zitate von Hugo und Augustinus gegenüber, finden sich neben vielen Unterschieden doch auch wichtige Gemeinsamkeiten. Bei Augustinus begegnet uns anstelle von lieben das für ihn typische genießen (frui). Dieses Wort ist eng mit der Liebestheorie des Augustinus verbunden. „Mit frui bezeichnet Augustinus den Genuß, den der Liebende bei der Vereinigung mit dem Geliebten empfindet; diese Vereinigung ist in ihrer reinsten Form als Teilhabe an Gott die ewige Seligkeit des Menschen.“ (Perkams, S. 51) Allein Gott ist um seiner selbst willen zu genießen, alles andere allein um Gottes willen. Darin besteht eine grundsätzliche Übereinstimmung zwischen Augustinus und Hugo. Für beide ist allein Gott um seiner selbst willen und alles andere in ihm. Hugo hat lediglich das Wort frui nicht übernommen, sondern durch diligere ersetzt.
Augustinus bezeichnet die Liebe jedoch nicht als Fortschritt, sondern einfach als Antrieb. Fortschritt ist immer hin zum Höheren ausgerichtet, während Antrieb nur die Wirkursache von etwas ist. Die Liebe ist es für Augustinus, die den Menschen dazu antreibt, Gott um seiner selbst willen zu lieben und den Nächsten in Gott. Für Hugo führt die Liebe aber zu etwas Höherem hin, die Seele wird nicht nur durch die Liebe angetrieben, sie schreitet durch die Liebe voran auf dem Weg zu Gott. Diese Teilhabe an Gott ist bei Augustinus im Wort frui enthalten. Dennoch meine ich, daß Hugo stärker das Verdiensthafte dieses Vorgangs betont, indem dem Menschen durch den Fortschritt im Geist, den die Liebe bewirkt, diese Teilhabe an Gott geschenkt wird. Ein Fortschritt ist mehr als eine bloße Bewegung. Ein Fortschritt ist immer nach vorne gerichtet, für unseren Fall können wir auch sagen, hin zum Besseren. Es ist ja auch ein wichtiges Anliegen Hugos zu zeigen, daß der Mensch durch die Liebe besser werden kann. Für Hugo gehört zu diesem Besserwerden, neben der großen Bedeutung der Gnade Gottes, auch das Verdienst des Menschen. Augustinus aber neigt dazu, dieses Verdienst des Menschen gegenüber der Gnade Gottes abzuwerten.
Wie Hugo stellt auch Augustinus der charitas die cupiditas gegenüber. Während Hugo aber der Liebe die Demut und der Begierde den Hochmut zugesellt, weist Augustinus der Begierde die Schandtat und das Verbrechen, der Liebe aber Eigennutz und Wohltat zu. Man kann aber einen Zusammenhang zwischen der Wohltat bei Augustinus und dem Wohlwollen, das Hugo der Liebe zuweist, sehen. Die doch feststellbaren Ähnlichkeiten in der Formulierung und im Aufbau der beiden Zitate lassen meiner Ansicht nach darauf schließen, daß Hugo die Stelle aus De doctrina christiana gekannt hat, sie aber nach seinen Vorstellungen umgeändert und somit zu seiner originellen Formulierung gefunden hat.
Wir haben in diesen Vergleichen gesehen, daß Hugo in seinem Denken von der Liebe als Fortschritt der Seele durchaus auf vorhandenes Gedankengut zurückgreift. Wenn auch eine Ähnlichkeit mit einem Augustinuszitat besteht, so findet sich doch keine andere Aussage, die diesen Satz auf ähnlich prägnante Weise formuliert wie Hugo. Wie ich meine, wird in diesem Satz auch eine gewisse Eigenständigkeit des Menschen gegenüber der Gnade Gottes deutlich. Es war Hugo sicher bewußt, auf welche Seite er sich mit der Betonung des Verdienstes des Menschen in der Gnadendiskussion seiner Zeit stellte. Es ist bisher nur bekannt, daß seine eingangs erwähnte Lehrmeinung bezüglich exkommunizierter Kleriker auf Kritik gestoßen ist. Es wäre interessant, wenn man Belegstellen dafür finden könnte, ob auch seine Gnadenlehre zur damaligen Zeit Beachtung gefunden hat. Da jedoch zu seiner Zeit die Begrifflichkeit in der Gnadenlehre noch sehr unklar war und er der Gnade durchaus ihre Bedeutung zuerkennt, kann es aber durchaus sein, daß in diesem Punkt nicht an der Rechtgläubigkeit Hugos gezweifelt wurde. Es war ja Hugo nicht daran gelegen, Aufsehen zu erregen, sondern er wollte mit seinem Werk den überlieferten Glauben der Kirche darlegen. Die Vergleiche mit anderen Autoren seiner Zeit haben gezeigt, daß er in vielen Punkten der verbreiteten Lehre folgt. Diese Lehre möchte Hugo auch in das Leben übertragen wissen und daher ist es ihm wichtig, dem Menschen seine Verantwortung zur Mitarbeit am Aufbau des Reiches Gottes deutlich zu machen. Dies kann der Mensch jedoch nur mit Hilfe der Gnade Gottes. Durch die Gnade Gottes wird auch einst dem, der sich in diesem Leben um die Liebe gemüht hat, die Gemeinschaft mit Gott in der ewigen Glückseligkeit geschenkt werden.

Schluß

Ausgehend von diesen Überlegungen, könnte man das streng augustinische Modell von der Gnade mit dem Wort Abhängigkeit bezeichnen. Der Mensch ist ganz und ständig abhängig von seinem Schöpfer. Der Mensch gehört nicht sich selbst, sondern ganz Gott. Alles Gute kommt von Gott, was könnte dann der Mensch aus sich Gutes haben? Hugo würde nicht leugnen, daß alles Gute von Gott kommt. Aber er unterscheidet sich gerade darin von Augustinus, daß er den Menschen nicht gänzlich abhängig von Gott sieht, sondern dem Menschen seine Verantwortung bewußt machen möchte. Wenn man das augustinische Modell mit dem Begriff Abhängigkeit charakterisieren kann, so das von Hugo mit dem Begriff Verantwortung. Der Mensch hat von Gott Vernunft und freien Willen bekommen, die so konzipiert sind, daß der Mensch mit ihrer Hilfe Gott erkennen kann. Erkennt er Gott in rechter Weise, so erkennt er ihn als das höchste Gut, das allein über alles zu lieben ist. Aus dieser Erkenntnis soll die freie Entscheidung des Menschen folgen, in allem den Willen Gottes zu tun. Die Erkenntnis Gottes, der Liebe ist, läßt den Menschen selbst zu einem Liebenden werden. Der Mensch ist aufgefordert, in allen Versuchungen und Mühen des Lebens an dieser Liebe festzuhalten. Das liegt ganz in seiner Entscheidung, und doch kann er es nicht ohne die Hilfe Gottes. Diese Hilfe aber gewährt Gott allen, die ihn darum bitten.
Ich finde, daß Hugo von Rouen auch heute nichts von seiner Aktualität verloren hat. Mag man mittlerweile in der Theologie auch manche Details seiner Lehre anders sehen, so ist es doch heute vielleicht notwendiger denn je, den Menschen die Bedeutung von Liebe und Verantwortung aufzuzeigen. Als großen Verkünder dieser Botschaft erlebe ich den derzeitigen Papst Benedikt XVI. Daher möchte ich zum Abschluß dieser Arbeit einige seiner Aussagen zu diesem Thema vorstellen.
Gott möchte seine Liebe schenken. Für ein Geschenk bedarf es der Freiheit, dieses anzunehmen. Das schließt die Möglichkeit der Ablehnung ein. Trotzdem wollte Gott die Freiheit. Sie ist das größte Risiko, das Gott mit der Schöpfung eingegangen ist. Die Freiheit, die Gott den Menschen geschenkt hat, ist ein Abbild der vollkommenen Freiheit, die Gott besitzt. Wie wichtig diese ist, beschreibt Benedikt XVI.:
„Wenn aber [...] der Logos allen Seins, das Sein, das alles trägt und umschließt, Bewußtsein, Freiheit und Liebe ist, dann ergibt sich von selbst, daß das Oberste der Welt nicht die kosmische Notwendigkeit, sondern die Freiheit ist. Die Folgen sind sehr weittragend. Denn das führt ja dazu, daß die Freiheit gleichsam als die notwendige Struktur der Welt erscheint, und dies wieder heißt, daß man die Welt nur als unbegreifliche begreifen kann, daß sie Unbegreiflichkeit sein muß. Denn wenn der oberste Konstruktionspunkt der Welt eine Freiheit ist, welche die ganze Welt als Freiheit trägt, will, kennt und liebt, dann bedeutet dies, daß mit der Freiheit die Unberechenbarkeit, die ihr innewohnt, wesentlich zur Welt gehört. Die Unberechenbarkeit ist ein Implikat der Freiheit; Welt kann – wenn es so steht – nie vollends auf mathematische Logik zurückgeführt werden. Mit dem Kühnen und Großen einer Welt, die von der Struktur der Freiheit gezeichnet ist, ist so aber auch das dunkle Geheimnis des Dämonischen gegeben, das uns aus ihr entgegentritt. Eine Welt, die unter dem Risiko der Freiheit und der Liebe geschaffen und gewollt ist, ist nun einmal nicht bloß Mathematik. Sie ist als Raum der Liebe Spielraum der Freiheiten und geht das Risiko des Bösen mit ein. Sie wagt das Geheimnis des Dunkels um des größeren Lichtes willen, das Freiheit und Liebe sind.“ (Ratzinger, J., Einführung in das Christentum, S. 122f.)
Gott selbst ist seinem Wesen nach Bewußtsein, Freiheit und Liebe. Er hat dem Menschen, den er nach seinem Bild geschaffen hat, Anteil an diesen Gütern geschenkt. Der Mensch ist frei, er kann erkennen und lieben. Das macht die Größe des Menschen aus. Gott hat ihm eine besondere Stellung in der Welt zukommen lassen. Durch seine Freiheit kann der Mensch mitwirken an der Schöpfung Gottes. Gott, der seinem Wesen nach vollkommene Freiheit ist, hat in Freiheit eine Welt geschaffen, der er selbst Freiheit geschenkt hat. In seiner absoluten Größe und Stärke hat Gott es nicht nötig, sich Sklaven zu schaffen, die ihm zu willen sind. Die Größe Gottes zeigt sich darin, daß er seinen Geschöpfen Freiheit gewährt. Gott will nicht, daß seine Geschöpfe ihm sklavisch dienen, sondern ihn lieben, und diese Liebe kann nirgens anders als in der Freiheit sein. Die Freiheit macht die Welt nicht vollkommen planbar.
Wenn die Freiheit auch die besondere Größe des Menschen zeigt, so schließt sie auch die Möglichkeit des Gegenteils und die größte Erniedrigung des Menschen mit ein. Durch den Mißbrauch der Freiheit ist die Möglichkeit zum Bösen gegeben. Weil die Welt frei ist, kann sie sich auch gegen Gott entscheiden. Sie kann sich vom Licht weg in die Finsternis begeben. Keine Logik kann ergründen, warum der Mensch oft mehr das Böse liebt als das Gute. Dennoch traut es Gott dem Menschen zu, daß er das Gute tut. Gott geht das Risiko des Bösen ein, aber nicht deshalb, weil er nur bestimmte Menschen retten möchte und von vornherein schon einen Teil der Menschheit zum Bösen vorherbestimmt hätte. Gott geht das Risiko des Bösen ein um des größeren Lichtes willen, das Freiheit und Liebe sind. Sich in Freiheit für die Liebe zu entscheiden, ist das Größte, das der Mensch tun kann. Gott traut dies jedem Menschen zu und es liegt in der Verantwortung jedes einzelnen Menschen, dieser seiner Größe gerechtzuwerden.
Freiheit und Vernunft schließen einander nicht aus, sondern sind vielmehr grundlegend aufeinander hingeordnet. Das Zusammenwirken von Freiheit und Vernunft und der Plan des vernünftigen Gottes, der über allem steht, lassen die Welt mehr sein, als der Mensch mit naturwissenschaftlicher Erkenntnis erfassen kann. Der Mensch hat von Gott die Vernunft bekommen, mit der er Gott erkennen kann. Es ist seine Verantwortung, diese in rechter Weise zu gebrauchen und so Gott zu erkennen und zu lieben. Der Glaube an diesen Gott, der Liebe ist, ist nicht eine weltferne Schwärmerei, sondern dieser Glaube ist vernünftig, weil Gott selbst Vernunft ist. Indem die Vernunft des Menschen Gott erkennt, kommt sie zu ihrer wahren Erfüllung. Und sie erkennt Gott als den, der Güte und Liebe ist.
„Wir glauben an Gott. Das ist unser Grundentscheid. Aber nun noch einmal die Frage: Kann man das heute noch? Ist das vernünftig? Seit der Aufklärung arbeitet wenigstens ein Teil der Wissenschaft emsig daran, eine Welterklärung zu finden, in der Gott überflüssig wird. Und so soll er auch für unser Leben überflüssig werden. Aber sooft man auch meinen konnte, man sei nahe daran, es geschafft zu haben – immer wieder zeigt sich: Das geht nicht auf. Die Sache mit dem Menschen geht nicht auf ohne Gott, und die Sache mit der Welt, dem ganzen Universum, geht nicht auf ohne ihn. Letztlich kommt es auf die Alternative hinaus: Was steht am Anfang: die schöpferische Vernunft, der Schöpfergeist, der alles wirkt und sich entfalten läßt, oder das Unvernünftige, das vernunftlos sonderbarerweise einen mathematisch geordneten Kosmos hervorbringt und auch den Menschen, seine Vernunft. Aber die wäre dann nur ein Zufall der Evolution und im letzten also doch auch etwas Unvernünftiges. Wir Christen sagen: Ich glaube an Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde – an den Schöpfer Geist. Wir glauben, daß das ewige Wort, die Vernunft am Anfang steht und nicht die Unvernunft. [...] Diese schöpferische Vernunft ist Güte. Sie ist Liebe. [...]
Der zweite Teil des Bekenntnisses schließt mit dem Ausblick auf das Letzte Gericht und der dritte mit dem der Auferstehung der Toten. [...] Diese Herstellung des Rechts, diese Zusammenfügung der scheinbar sinnlosen Fragmentstücke der Geschichte in ein Ganzes hinein, in dem die Wahrheit und die Liebe regieren: das ist mit dem Weltgericht gemeint. Der Glaube will uns nicht angst machen, aber er will uns zur Verantwortung rufen. [...] Nicht Angst, aber Verantwortung – Verantwortung und Sorge um unser Heil, um das Heil der ganzen Welt ist notwendig. Jeder muß seinen Teil dazu beitragen.“ (Reisswitz, S. 90f.)
Der Mensch hat Verantwortung für sein Leben. Jeder Mensch trifft immer wieder neu in Freiheit die Entscheidung, wie er sein Leben führen möchte. Jeder Mensch hat von Gott eine Aufgabe in dieser Welt. Der Mensch ist aufgerufen, diese seine Sendung immer neu zu erkennen und zu erfüllen. So kann er mitwirken an seinem Heil und am Heil der ganzen Schöpfung, das Gott schenken möchte. Um das Heil zu erlangen und seiner Verantwortung gerechtzuwerden, ist es entscheidend, daß der Mensch Gott als Liebe erkennt und selbst diese Liebe lebt. Programmatisch hat Papst Benedikt XVI. seiner ersten Enzyklika den Titel „Deus caritas est“ gegeben.
„ ‚Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm’ (1 Joh 4,16). In diesen Worten aus dem Ersten Johannesbrief ist die Mitte des christlichen Glaubens, das christliche Gottesbild und auch das daraus folgende Bild des Menschen und seines Weges in einzigartiger Klarheit ausgesprochen. Außerdem gibt uns Johannes in demselben Vers auch sozusagen eine Formel der christlichen Existenz: ‚Wir haben die Liebe erkannt, die Gott zu uns hat, und ihr geglaubt’ (vgl. 4,16).
Wir haben der Liebe geglaubt: So kann der Christ den Grundentscheid seines Lebens ausdrücken. [...] Die Liebe ist nun dadurch, dass Gott uns zuerst geliebt hat (vgl. 1 Joh 4,10), nicht mehr nur ein ‚Gebot’, sondern Antwort auf das Geschenk des Geliebtseins, mit dem Gott uns entgegengeht.“ (Deus caritas est, S. 10f.)
Der Mensch ist fähig, Gott als Liebe zu erkennen. Die Tatsache, daß Gott ist und daß er vollkommene Liebe ist, ist die Mitte des christlichen Glaubens. Gott hat den Menschen zuerst geliebt. So ist Liebe für den Menschen nicht nur ein Gebot, sondern Antwort auf das Geschenk des Geliebtseins, mit dem Gott uns entgegengeht. In der Liebe kommt es zur innigsten Verbindung zwischen Gott und Mensch. Wenn der Mensch in der Liebe bleibt, so bleibt er in Gott und Gott in ihm. Der Mensch liebt in rechter Weise, wenn er Gott vor allem und den Nächsten wie sich selbst liebt. Ausdrücklich weist der Papst hin auf „die unlösliche Verschränkung von Gottes- und Nächstenliebe. Beide gehören so zusammen, dass die Behauptung der Gottesliebe zur Lüge wird, wenn der Mensch sich dem Nächsten verschließt oder gar ihn hasst.“ (Deus caritas est, S. 38)
Gott ist treu im Erweis seiner Liebe. Er hat dem Menschen auf vielfältige Weise seine Liebe gezeigt, ganz besonders in der Erlösung durch Christus und in den Sakramenten, allen voran in seiner fortwährenden Gegenwart in der Eucharistie. „Er hat uns zuerst geliebt und liebt uns zuerst; deswegen können auch wir mit Liebe antworten.“ (Deus caritas est, S. 40)
„Die Erkenntnis des lebendigen Gottes ist Weg zur Liebe, und das Ja unseres Willens zu seinem Willen einigt Verstand, Wille und Gefühl zum ganzheitlichen Akt der Liebe. Dies ist freilich ein Vorgang, der fortwährend unterwegs bleibt: Liebe ist niemals ‚fertig’ und vollendet; sie wandelt sich im Lauf des Lebens, reift und bleibt sich gerade dadurch treu.“ (Deus caritas est, S. 40f.)
Die Liebe ist niemals fertig, sie ist hier auf Erden immer unvollendet. Der Mensch ist fortwährend unterwegs hin zur größeren Liebe. Sie fordert das immer neue Ja des Menschen. Dieses Ja zur Liebe Gottes soll der Mensch aus seiner tiefsten Seele sprechen. Verstand, Wille und Gefühl sollen sich vereinen zu diesem ganzheitlichen Akt der Liebe. (So hat der jetzige Papst mit den Worten Josef Piepers schon in einem anderen Werk die Liebe definiert: „Unbeschadet der Vielfalt seiner Aspekte und seiner Ebenen, können wir indes sagen, es benenne einen Akt fundamentaler Zustimmung zu einem anderen, ein Ja zum Adressaten der Liebe: Gut, daß es dich gibt – so hat Josef Pieper treffend das Wesen von Liebe definiert.“ (Benedikt XVI., Joseph Ratzinger, Auf Christus schauen, Freiburg 2005, S. 101. Vgl. Pieper, J.,Lieben-hoffen-glauben, München 1986, S. 45.) In diesen Worten läßt sich der Gedanke Hugos von der Liebe als Fortschritt der Seele wiederfinden. Verstand, Wille und Gefühl sind Teile der Seele. Sie wirken in der Erfüllung der Liebe zusammen. Dadurch kommt es zu einem Wandel, zu einem Wachstum in der Liebe, das die Seele immer mehr heranreifen läßt zu dem Bild Gottes, das sie in sich trägt. „Dann wächst die Hingabe an Gott. Dann wird Gott unser Glück.“ (Deus caritas est, S. 41) Auf dem Weg der Liebe kann der Mensch mit Gottes Hilfe das Ziel erreichen, das der liebende Gott ihm im voraus vorherbestimmt hat, die Teilhabe an der ewigen Glückseligkeit Gottes, wenn der Mensch Gott sehen wird, wie er ist. Das ist das Ziel eines jeden Menschen, die vollkommene Teilhabe an der Liebe Gottes in seinem Reich, wenn alle eins sein werden mit Gott und untereinander in der Liebe.
„Tu, pie Domine, tuo charitatis pondere per mensuram obedientiae erue nos de sorte malorum, resigna nos in numero justorum. O Deus meus, quia homo factus vere meus, propter me factus pauper et egenus in terra mei incolatus, ut me vero pauperem et egenum aeternae felicitatis tuae possessorem facias in aeternum! [...] Amen.“ (DL, Lib. VII, XIV, PL 192, 1246. „Du, gütiger Herr, entreiße uns mit dem Gewicht deiner Liebe durch das Maß des Gehorsams dem Geschick der Bösen, zeichne uns ein in die Zahl der Gerechten. O mein Gott, weil Du Mensch wurdest, bist Du wahrhaft mein, für mich wurdest Du ein armer und bedürftiger Bewohner auf meiner Erde, daß Du mich wahrhaft Armen und Bedürftigen zu einem Besitzer Deiner ewigen Freude machen mögest in der Ewigkeit! [...] Amen.“)

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